Sharon: die Frau, die zweimal starb
ich erfahren hatte.
Er sagte eine Zeitlang nichts, dann: »Ich habe um elf eine Geschichtsstunde. Vielleicht können wir noch ein paar mehr Dinge in einen Zusammenhang bringen.«
Er kam zehn nach zehn. Wir stiegen in den Seville, und er dirigierte mich auf dem Sunset nach Osten. Der Boulevard war sonntags leer, sogar auf dem Strip. Nur kleine Ansammlungen von Brunchern und Rockern mit Federhaaren hockten in Straßencafés, mischten sich mit Kokshuren, Callgirls und Callboys und versuchten, die vergangene Nacht abzuschütteln.
»Gesund«, meinte Milo. Er zog eine Zigarre heraus, sagte: »Du bist schuld, dass ich wieder damit angefangen habe«, steckte sie an und blies seifig aussehenden Rauch aus dem Fenster.
»Was ist das? Panama?«
»Transsylvanien.«
Er paffte enthusiastisch. Innerhalb von Sekunden war der Wagen vernebelt.
Wir fuhren an La Brea, an Western vorbei. Dort gab es keine Cafés mehr, nur noch Schnellimbissbuden, Pfandleihen und Discountläden. Durchs Fenster kam Gelächter und Radiomusik, gewürzt mit Ausbrüchen auf Spanisch. Familien schlenderten den Bürgersteig entlang - Eltern, die jung genug waren, selbst noch Kinder zu sein, und von Horden schwarzhaariger Cherubim begleitetet wurden.
»Das ist ja toll«, sagte ich.
Er nickte. »Die Auslese - ich meine das ehrlich. Die armen Teufel geben alles, was sie haben, den verdammten coyotas , werden vergewaltigt, beraubt und ausgezogen bis aufs Hemd, während sie es über die Grenze herüber zu uns zu schaffen versuchen. Dann behandeln wir sie wie Ungeziefer und schicken sie zurück, als ob das verdammte Land nicht auf Einwanderung aufgebaut wäre - Teufel, wenn meine Vorfahren sich nicht auf ein Dampfschiff begeben und durch Kanada hereingekommen wären, würde ich irgendwo im County Cork Kartoffeln buddeln.« Er dachte drüber nach. »Hab Postkarten vom County Cork gesehen. Vielleicht besser dort.«
Wir kamen durch die Krankenhausstraße zwischen Edgemont und Vermont, dann an den Western Pediatrics vorbei, wo ich einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Lebens verbracht hatte.
»Wo wollen wir hin?«, fragte ich.
»Fahr immer weiter.« Er zerdrückte die Zigarre im Aschenbecher. »Hör mal, da gibt’s noch etwas, was ich dir sagen sollte. Nachdem ich dich gestern verlassen hatte, bin ich nach Newhall raus und habe mit Rasmussens Dame gesprochen - Seeber.«
»Wie hast du sie gefunden? Ich habe dir nie ihren Namen gesagt.«
»Keine Sorge. Deine Unschuld ist intakt. Die Sheriffs in Newhall haben ihr Statement über den Unfall. Da stand ihre Adresse.«
»Was macht sie?«
»Scheint sich gut erholt zu haben - hat schon einen neuen Typen bei sich wohnen. Mageren Casanova mit Junkie-Augen und entzündeten Armen, er dachte, ich käme ihn hochnehmen, und war schon halb aus dem Fenster, bevor ich ihn beruhigen konnte.«
Er streckte sich, gähnte. »Jedenfalls habe ich sie gefragt, ob Rasmussen in letzter Zeit viel gearbeitet hat. Sie sagt nein, durch seine schlechte Laune hätte er zu oft Ärger gekriegt. Niemand wollte mit ihm zusammenarbeiten. Sie hat sich und ihn die letzten sechs Monate mit dem Imbisswagen durchgebracht. Dann hab ich das Thema von den tausend Piepen angeschnitten, die er ihr auf dem Kissen dagelassen hat, und sie hat sich fast die Hosen nassgemacht. Obwohl der Sheriff ihr das Geld freigegeben hat, hat sie Angst, dass ich es konfisziere - was noch übrig ist. Wahrscheinlich hat sich der Junkie das meiste davon in den Arm geschaufelt.
Ich beruhige sie, sage ihr, wenn sie mitmacht, kann sie’s behalten, den ganzen Rest auch. Sie sieht mich an, als will sie sagen: ›Wo haben Sie das mit dem Rest her?‹ Volltreffer. Ich frage, wie viel sind’s denn, Carmen? Raus damit. Sie druckst herum und so, stellt sich fürchterlich an - gibt sich wirklich wahnsinnig Mühe, aber sie hat nun mal wenig Willenskraft, und sie platzt mit der ganzen Sache heraus: D.J. hatte kürzlich eine Menge Geld an Land gezogen, warf damit um sich, kaufte teure Teile für seinen Lastwagen. Sie weiß nicht genau, wie viel es ist. Aber sie hat, nicht wahr, noch mal viertausendvierhundert in einer seiner Socken gefunden.«
»Wie lange ist ›kürzlich‹ her?«
»Ein paar Wochen. Wenigstens eine Woche, bevor alle anfingen zu sterben.«
Ich fuhr immer weiter, am Silverlake District und am Echo Park vorbei, auf den westlichen Rand der City zu, wo Wolkenkratzer aus einem Gewirr von Freeway-Schluchten und dunklen Hintergassen ragten und silbrig und bronzefarben
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