Sharon: die Frau, die zweimal starb
wir beide mürrisch.
»Widerlicher Fall«, sagte Milo. »Zu viele Tote, zu lange her.«
»Vidal lebt noch«, sagte ich. »Sieht sogar verdammt robust aus.«
»Vidal«, sagte Milo und grunzte. »Wie hat ihn Crotty genannt - Billy, den Zuhälter? Von da bis zum Vorstandsvorsitzenden. Steiler Aufstieg.«
»Mit scharfen Spikes ging’s vielleicht schneller«, sagte ich. »Und ein paar Köpfen zum Drauftreten.«
25
Mein Plan war, am Montagmorgen zurück in die Bibliothek zu gehen und mehr über Billy Vidal und den Rauschgiftfund bei Linda Lanier herauszubekommen. Aber der Postbote kam um zwanzig nach acht zu mir und brachte mir ein Päckchen. Darin war ein großformatiges, in dunkelgrünes Leder gebundenes Buch. Unter einem Gummiband lag ein Blatt Papier auf dem Buchdeckel mit den Worten: »Hier habe ich meinen Teil unserer Abmachung eingehalten. Hoffe, Sie werden es ebenso tun. M.B.«
Ich nahm das Buch mit in die Bibliothek und las das Titelblatt:
DER STILLE PARTNER:
IDENTITÄTSKRISE UND EGODISFUNKTION
IM FALL EINER MULTIPLEN PERSÖNLICHKEIT
MIT PSEUDO-ZWILLINGS-MASKIERUNG,
EINE KLINISCH-WISSENSCHAFTLICHE
UNTERSUCHUNG
von
Sharon Jean Ransom
Eine Dissertation im
Fachbereich Psychologie
der Universität von Südkalifornien.
In teilweiser Erfüllung der
Voraussetzungen für den Grad eines
Doktors der Philosophie
(Psychologie)
Juni 1981
Ich blätterte um zur Widmung:
Für Shirlee und Jasper, die mir mehr bedeutet haben, als sie sich je vorstellen könnten, und für Paul, der mich sicher von der Dunkelheit zum Licht geführt hat.
Jasper?
Freund? Geliebter? Noch ein Opfer?
Auf der Seite mit den Danksagungen wiederholte Sharon ihren Dank an Kruse, gefolgt von einer kursorischen Erwähnung der anderen Mitglieder ihres Ausschusses: der Professoren Sandra J. Romansky und Milton F. Frazier.
Ich hatte noch nie von Romansky gehört, nahm an, sie könnte zur Fakultät gekommen sein, als ich weg war. Ich holte mein American Psychological Association Directory heraus und fand sie als Beraterin im öffentlichen Gesundheitsdienst in einem Krankenhaus in Amerikanisch-Samoa. In ihrer Biografie war eine einjährige Gastdozentur an der Universität während des akademischen Jahrs 1981-82 erwähnt. Ihre Berufung war für das Fach Frauenstudien erfolgt, beim Fachbereich Anthropologie. Im Juni 1982 war sie eine frisch gebackene Doktorin der Philosophie gewesen. Sechsundzwanzig Jahre alt - zwei Jahre jünger als Sharon. Das »outside member«, das in jedem Ausschuss erlaubt war. Gewöhnlich wählte sich der Prüfling jemanden mit netten Umgangsformen und nicht zu viel Ahnung im Prüfungsfach.
Ich könnte versuchen, sie aufzufinden, aber das Adressbuch war drei Jahre alt und sie konnte inzwischen längst woanders hingezogen sein.
Außerdem gab es da eine bessere, näher daheim gelegene Informationsquelle.
Kaum zu glauben, dass der »Rattenmann« einverstanden gewesen war, in diesem Ausschuss zu sitzen. Frazier, ein hartgesottener Experimentalist, hatte immer alles abgrundtief verachtet, was irgendwie mit Patienten zu tun hatte, und betrachtete die klinische Psychologie als den »weichen Unterleib der Verhaltensforschung«.
Er war während meiner Studienzeit Dekan gewesen, und ich erinnerte mich noch, wie er auf das »Rattengesetz« gepocht hatte - dass alle Absolventen, bevor sie sich auf ihren Doktor der Philosophie vorbereiteten, ein volles Jahr tierisches Verhalten studierten. Die Fakultät hatte das in einer Abstimmung abgelehnt, aber eine Forderung wurde angenommen: dass zu allen Forschungen für das Doktorat unbedingt auch Experimente - Kontrollgruppen, Manipulation von Variablen - gehören sollten. Fallstudien waren absolut verboten.
Aber genau danach klang diese Studie.
Mein Auge fiel auf die letzte Zeile auf der Seite:
… und tiefen Dank Alex, der mich sogar dann noch, wenn er abwesend ist, inspiriert.
Ich blätterte die Seite so ungestüm um, dass sie fast zerriss. Begann den Anfang des Dokuments zu lesen, das Sharon das Recht eingebracht hatte, sich Doktor zu nennen.
Das erste Kapitel war eine sehr zähe Lektüre - ein qualvoll ausführlicher Rückblick auf die Literatur über Identitätsentwicklung und die Psychologie von Zwillingen, voller Fußnoten und Zitaten und dem Jargon, den Maura Bannon erwähnt hatte. Ich dachte: Darüber ist die Studentenreporterin nicht weggekommen.
Im zweiten Kapitel beschrieb Sharon eine Patientin, die sie J. nannte, eine junge Frau,
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