Sharon: die Frau, die zweimal starb
die sie sieben Jahre lang behandelt hatte und deren »einzigartige Pathologie und ideative Prozesse strukturelle, funktionale und interaktive Charakteristiken besitzen, die zahlreiche bisher als orthogonal diagnositizierte Grenzen überschreiten und einen signifikanten neuristischen und pädagogischen Wert für das Studium der Identitätsentwicklung, das Verschwimmen der Egogrenzen und den Gebrauch von hypnotischen und hypnagogischen regressiven Techniken in der Behandlung idiopathischer Persönlichkeitsstörungen darstellen«.
Mit anderen Worten: J.’s Probleme waren so ungewöhnlich, dass Therapeuten daraus lernen könnten, wie das Bewusstsein arbeitete.
J. wurde als eine junge Frau Ende zwanzig aus der Oberklasse beschrieben. Gut ausgebildet und intelligent, war sie nach Kalifornien gekommen, um eine Karriere in einem nicht genauer bezeichneten Beruf einzuschlagen, und sie stellte sich Sharon zur Behandlung vor, weil sie unter niedriger Selbstachtung, Depressionen, Schlaflosigkeit und Gefühlen eines »Hohlseins« litt.
Aber am beunruhigsten war, was J. ihre »verlorenen Stunden« nannte. Dann erwachte sie manchmal aus langem Schlaf und fand sich allein an unbekannten Orten wieder - durch Straßen wandernd oder in ihrem Wagen am Rande einer Landstraße parkend, im Bett in einem billigen Hotel oder am Tresen eines primitiven Kaffeeladens. Abgerissene Tickethälften und Quittungen von Autoverleihern in ihrer Handtasche deuteten darauf hin, dass sie zu diesen Orten geflogen oder gefahren war, obwohl sie sich nicht mehr daran erinnerte. »Keine Ahnung« mehr von dem, was sie während gewisser Perioden getan hatte, die sich, wie Kalenderüberprüfungen ergaben, über jeweils drei bis vier Tage erstreckten. Es war, als hätte man ganze Zeitblöcke aus ihrem Leben gestohlen.
Sharon diagnostizierte diese zeitlichen Verwerfungen korrekt als sogenannte »Fugue-Zustände« - »Wandertrieb« oder »Poriomanie«. Ebenso wie Amnesie - Gedächtnisverlust - und Hysterie ist auch die Fugue - oder das dranghaft unwiderstehliche Wandern oder triebhafte Fortlaufen bei den sogenannten epileptoiden Psychopathien - eine dissoziative Reaktion, ein buchstäbliches Abspalten der Psyche bei Ängsten und Konflikten. Ein dissoziativer Patient, konfrontiert mit einer Welt, die voller Stress ist, stößt sich selbst aus dieser Welt aus und flüchtet.
In der Hysterie wird der Konflikt auf ein körperliches Symptom abgeleitet - Pseudolähmung, Blindheit -, und der Patient trägt oft eine belle indifference zur Schau. Eine Apathie, was die Behinderung angeht. Als ob es einer anderen Person geschähe. In der Amnesie und der Fugue finden tatsächlich eine Flucht und ein Gedächtnisverlust statt. Aber in der Fugue ist die Auslöschung kurzzeitig, der Patient erinnert sich, wer er oder sie vor der Flucht war, ist voll in touch , wenn er oder sie herauskommt. Was dazwischen geschieht, bleibt ein Geheimnis.
Missbrauchte und vernachlässigte Kinder lernen es früh, sich dem Horror gegenüber abzuschotten, und wenn sie dann aufwachsen, kommen bei ihnen oft dissoziative Symptome vor. Dasselbe gilt für Patienten mit fragmentierten oder verschwommenen Identitäten. Narzisten. Borderlinern.
Als J. zu Sharon in die Praxis kam, waren ihre Fugues so häufig - fast einmal eine in jedem Monat -, dass sie eine Angst davor entwickelte, das Haus zu verlassen und sich mit Barbituraten die Nerven zu beruhigen versuchte.
Sharon nahm detailliert ihre Geschichte auf, testete sie auf frühere traumatische Erlebnisse. Aber J. bestand darauf, sie hätte eine Kindheit wie im Bilderbuch erlebt - alle Annehmlichkeiten des Lebens, weltgewandte, attraktive Eltern, die sie liebten und bewunderten, bis zu dem Tag, an dem sie bei einem Autounfall ums Leben kamen.
Alles war wundervoll gewesen, darauf beharrte sie; also gab es keinen vernünftigen Grund, dass sie diese Probleme hatte. Es würde eine kurze Therapie werden - nur ein Einstellen des Motors sozusagen, und dann würde sie wieder laufen.
Sharon stellte fest, dass diese Art der extremen Verleugnung eine Konstante beim dissoziativen Verhalten war. Sie hielt es für unklug, J. damit zu konfrontieren, schlug ihr stattdessen eine sechsmonatige Probezeit für eine Psychotherapie vor, und als J. sich weigerte, eine Verpflichtung auf so lange Zeit einzugehen, war Sharon mit einer Zeit von drei Monaten einverstanden.
J. versäumte ihre erste Stunde und die nächste auch. Sharon versuchte, sie anzurufen, aber die Nummer,
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