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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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die sie ihr gegeben hatte, war nicht angeschlossen. Die nächsten drei Monate hörte sie nichts von J., nahm an, dass die junge Frau es sich anders überlegt hätte. Dann eines Abends, nachdem Sharon den letzten Patienten verabschiedet hatte, kam J. in die Praxis gestürmt, weinte, halb bewusstlos vor Betäubungsmitteln und bettelte, dass sie sie empfangen möge.
    Sharon brauchte eine Zeitlang, um sie zu beruhigen und ihre Geschichte zu hören: Überzeugt, dass sie nur dringend eine Veränderung ihrer Umgebung brauchte (»eine gewollte Flucht« kommentierte es Sharon), war sie nach Rom geflogen, hatte in der Via Veneto eingekauft, in feinen Restaurants gespeist und sich wunderbar amüsiert, bis sie mehrere Tage später mit zerrissenen Kleidern, halbnackt, zerschunden und wund, Gesicht und Körper mit einer klebrigen Kruste getrockneten Samens bedeckt, in einer verdreckten Seitenstraße von Venedig aufwachte. Sie nahm an, dass man sie vergewaltigt hätte, konnte sich aber an nichts erinnern. Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, nahm sie das nächste Flugzeug zurück in die USA und fuhr vom Flugplatz direkt zu Sharon in die Praxis.
    Sie sah jetzt ein, dass sie etwas falsch gemacht hatte, aber sie brauchte dringend Hilfe. Und war bereit, alles zu tun, was nötig wurde.
    Trotz dieser Einsicht entwickelte sich diese Behandlung nicht störungsfrei. J. verhielt sich der Psychotherapie gegenüber ambivalent. Sie wechselte hin und her zwischen einer Vergötterung Sharons und unflätigen Beschimpfungen. In den nächsten beiden Jahren wurde klar, dass J.’s Ambivalenz ein »Kernelement ihrer Persönlichkeit, etwas Grundlegendes in ihrer Charakterstruktur« darstellte. Sie zeigte zwei verschiedene Gesichter: das des hungrigen, herumgestoßenen Waisenkindes, das kommt und um Hilfe bittet, Sharon mit göttlichen Attributen ausstattet, sich mit einer Flut von Komplimenten und Geschenken bei ihr einzuschmeicheln sucht; und das wutschnaubende, mit gemeinen Redensarten um sich werfende Straßenmädchen, das behauptete: »Ich bin dir ja scheißegal … Du machst das nur, um dich auf meine Kosten an irgendeinem miesen Powertrip aufzugeilen.«
    Gute Patientin, schlechte Patientin. J. wechselte allmählich immer leichter zwischen den beiden Persönlichkeiten hin und her, und nach dem zweiten Therapiejahr kam es während einer einzigen Sitzung mehrmals zu einer solchen, Shift genannten Verschiebung oder Veränderung.
    Sharon stellte ihre ursprüngliche Diagnose in Frage und zog eine andere in Erwägung:
    Multiple personality syndrome - oder Symptomenkomplex der innerhalb eines Individuums mehrfach oder vieldeutig ausgeprägten Persönlichkeit. Die seltenste aller Störungen, die endgültige Dissoziation, der unheilbare Persönlichkeitszerfall, wie man annahm. Obwohl J. keine zwei unterschiedlich ausgeprägten Persönlichkeiten aufwies, erweckten ihre Shifts aber doch den Eindruck, als handle es sich um ein sogenanntes latent multiples Syndrom, einen latent vorhandenen Symptomenkomplex, und die Beschwerden, deretwegen sie in die Behandlung kam, klangen sehr ähnlich denen multipler Patienten, die sich ihrer Krankheit nicht bewusst waren.
    Sharon hielt Rücksprache mit ihrem Berater und Doktorvater - dem hochgeschätzten Professor Kruse -, und er schlug vor, die Hypnose als Mittel der Diagnose zu benutzen. Aber J. weigerte sich, eine Hypnose mitzumachen, sie schreckte davor zurück, sich Sharon so völlig auszuliefern. Außerdem, so sagte sie, gehe es ihr prima, und sie sei sicher, dass sie schon fast ganz geheilt sei. Und sie sah viel besser aus: Die Fugues waren nicht mehr so stark gewesen, und die letzte hatte vor drei Monaten stattgefunden. Sie war frei von Barbituraten und besaß eine höhere Selbstachtung. Sharon gratulierte ihr, vertraute sich aber mit ihren Zweifeln Kruse an. Er riet ihr, abzuwarten und dann weiterzusehen.
    Zwei Wochen danach beendete J. die Therapie. Fünf Wochen später kam sie - um zehn Pfund abgemagert und wieder drogenabhängig - zu Sharon in die Praxis, hatte eine sieben Tage lange Fugue hinter sich, an deren Ende sie sich - nackt, mit leerem Tank, ohne ihre Handtasche und eine leere Tablettenröhre in der Hand - gestrandet in der Mojave-Wüste wiedergefunden hatte. Alle Mühe war anscheinend umsonst gewesen.
    Sharon hatte zwar recht behalten, aber sie brachte »tiefe Enttäuschung über J.’s Regression« zum Ausdruck.
    Wieder einmal schlug sie Hypnose vor. J. reagierte mit Wut, klagte Sharon an,

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