Sharon: die Frau, die zweimal starb
Sie?«
»Fünf. Fünf Jungen. Alle verheiratet und fort außer Gabey. Unterbewusst will ich wahrscheinlich gar nicht, dass er erwachsen wird.«
Sie rief: »Hau ab!«, und winkte aus dem Fenster. Das Rattern des Triumph-Motors drang zu uns herauf.
Als es wieder still war, schüttelte sie mir die Hand und sagte: »Ich bin Helen Leidecker. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie nicht begrüßt habe, wie es sich gehört. Gabey hat mir nicht gesagt, wer Sie sind oder was Sie wollen. Nur dass ein Fremder aus der Stadt bei den Ransoms herumschnüffelte und mit mir reden wollte.« Sie zeigte auf die Schülerpulte. »Wenn Sie nichts gegen eins von denen haben, setzen Sie sich bitte.«
»Bringt Erinnerungen zurück«, meinte ich und quetschte mich in eine Bank in der ersten Reihe.
»Oh, wirklich? Haben Sie so eine Schule besucht?«
»Wir hatten mehr als einen Raum, aber die Einrichtung war ähnlich.«
»Wo war das, Dr. Delaware?«
Dr. Delaware. Ich hatte ihr meinen Titel nicht verraten. »Missouri.«
»Sie sind aus dem Mittelwesten«, sagte sie. »Ich bin ursprünglich aus New York. Wenn jemand mir gesagt hätte, ich würde in einem schläfrigen Dörfchen wie Willow Glen enden, hätte ich das für lachhaft gehalten.«
»Wo in New York?«
»Long Island. The Hamptons - nicht die Wohngegend der Reichen. Meine Familie hat die faulen, reichen Leute bedient.«
Sie ging zurück hinter ihr Pult und setzte sich.
»Wenn Sie durstig sind«, sagte sie, »da hinten ist ein Kühlschrank voller Getränke, aber ich fürchte, wir haben nur Milch, Kakao oder Orangendrink.« Sie lächelte, wurde jünger. »Ich habe es so oft wiederholt, es ist unauslöschlich in mein Gehirn geätzt.«
»Nein, danke«, sagte ich. »Ich hatte ein reichliches Mittagessen.«
»Wendy ist eine wundervolle Köchin, nicht?«
»Wundervolles Frühwarnsystem auch.«
»Wie ich sagte, Dr. Delaware, dies ist ein verschlafenes Dörfchen. Jeder weiß etwas über jeden.«
»Gehört dazu auch Wissen über Shirlee und Jasper Ransom?«
»Sicher. Sie brauchen eine besondere Freundlichkeit.«
»Besonders jetzt«, sagte ich.
Ihr Gesicht fiel zusammen, als ob es plötzlich zerschnitten worden wäre. »O Gott«, sagte sie und öffnete eine Schublade in ihrem Pult. Sie zog ein besticktes Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen ab. Als sie sich mir wieder zuwandte, waren sie durch die Trauer noch größer geworden.
»Sie lesen keine Zeitung, können kaum die Fibel entziffern. Wie soll ich’s ihnen sagen?«
Ich wusste keine Antwort darauf. Ich war es müde, nach Antworten zu suchen. »Haben sie noch andere Angehörige?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie war alles, was sie hatten. Und mich. Ich bin ihre Mutter geworden. Ich weiß, ich werde es irgendwie schaffen müssen.«
Sie presste das Taschentuch wie einen Breiumschlag aufs Gesicht. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie. »Ich bin so erschüttert wie an dem Tag, als ich davon las - das war ein Horror. Ich kann’s einfach nicht glauben. Sie war so schön, so lebendig.«
»Ja, das war sie.«
»Ich habe sie praktisch aufgezogen. Und jetzt ist sie weg, ausgelöscht. Als hätte sie nie gelebt. So eine verdammte, hässliche Verschwendung … Wenn ich daran denke, werde ich wütend auf sie. Was unfair ist. Es war ihr Leben. Sie hat mich nie um das gebeten, was ich ihr gab, nie … Oh, ich weiß nicht!«
Sie wandte das Gesicht ab. Ihr Make-up fing an zu zerlaufen. Sie erinnerte mich an einen Festwagen am Morgen danach.
Ich sagte: »Es war ihr Leben. Aber sie hat viele Leute hinterlassen, die ihren Tod betrauern.«
»Es ist mehr als Trauer«, entgegnete sie. »Ich habe das gerade durchgemacht. Dies ist schlimmer. Ich dachte, ich kannte sie ein bisschen wie eine Tochter, aber all diese Jahre muss sie so viel Schmerz mit sich herumgetragen haben. Ich hatte keine Ahnung - sie hat es nie ausgedrückt.«
»Niemand wusste es«, sagte ich. »Sie hat sich nie richtig gezeigt.«
Sie warf die Hände empor und ließ sie fallen wie tote Gewichte. »Was konnte so schlimm sein, dass sie alle Hoffnung verlor?«
»Ich weiß es nicht. Darum bin ich hier oben, Mrs. Leidecker.«
»Helen.«
»Alex.«
»Alex«, sagte sie. »Alex Delaware. Wie seltsam, Sie nach all den Jahren kennenzulernen. Irgendwie habe ich das Gefühl, Sie zu kennen. Sie hat mir alles von Ihnen erzählt - wie sehr sie Sie geliebt hat. Sie betrachtete Sie als einzige wahre Liebe ihres Lebens, obwohl sie wusste, dass es nie etwas werden konnte wegen Ihrer
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