Sharon: die Frau, die zweimal starb
der Hand und zeigte auf den Papierstapel auf der Kommode, drehte Jasper herum und zeigte auf mich.
»Zeichnungen!«
Ich lächelte und sagte: »Sie sind schön.«
»Uhh.« Der Ton war tief, guttural, angestrengt. Ich erinnerte mich, wo ich so etwas gehört hatte. Resthaven.
»Zeich-nun-gen!«, schrie Shirlee immer noch.
»Es ist gut«, sagte ich. »Danke, Shirlee.«
Aber inzwischen war sie nicht mehr zu bremsen. »Zeichnungen! Geh! Geh!« Sie gab seinen flachen Hinterbacken einen Schubs. Er trottete aus der Baracke.
»Jasp’ hol’ Zeichnung«, sagte Shirlee.
»Großartig. Shirlee, wir redeten gerade darüber, wann Sharon geboren ist. Ich habe Sie gefragt, ob sie aus Ihrem eigenen Bauch kam.«
»Albern!« Sie sah nach unten und strich den Stoff des Kleides über ihrem Bauch glatt. Streichelte auch die weiche Vorwölbung. »Kein Baby«
»Wie ist sie denn Ihr kleines Mädchen geworden?«
Das teigige Gesicht leuchtete auf, die Augen voll Tücke. »Ein Geschenk.«
»Sharon war ein Geschenk?«
»Ja.«
»Von wem?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wer hat sie Ihnen zum Geschenk gemacht?«
Das Kopfschütteln wurde stärker.
»Warum können Sie es mir nicht sagen?«
»Kannich!«
»Warum, Shirlee?«
»Kann nicht! Geheim!«
»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie es geheim halten sollen?«
» Kannicht! Geheim. Geheim-nüs !«
»Ich verstehe, Shirlee.«
Ihr stand Schaum vorm Mund, und sie sah aus, als ob sie jeden Augenblick losweinen könnte.
»Okay«, sagte ich. »Es ist gut, ein Geheimnis für sich zu behalten, wenn du das versprochen hast.«
»Geheim.«
»Ich verstehe, Shirlee.«
Sie schniefte, lächelte, sagte: »Uh-oh, Wasserzeit«, und ging hinaus. Ich folgte ihr in den Hof. Jasper war gerade aus der anderen Baracke heraus und kam uns mit mehreren Blättern Papier in den Händen entgegen. Er sah mich und winkte damit in der Luft herum. Ich ging hinüber, und er schob sie mir zu. Mehr Äpfel.
»Großartig, Jasper. Schön.«
Shirlee sagte: »Wasserzeit«, und sah den Schlauch an.
Jasper hatte die Tür der anderen Baracke offen gelassen, und ich ging hinein. Ein kleiner, nicht aufgeteilter Raum. Roter Teppich. Ein Himmelbett stand in der Mitte, eine mit Litzen umrandete Steppdecke lag darauf. Der Stoff war von grünschwarzen Schimmelflecken bedeckt und vermodert. Ich berührte ein Stück der Litze, es verwandelte sich zu Staub zwischen meinen Fingern. Das Kopfbrett und der Himmelrahmen waren schmutzig vor Oxidation und gaben einen bitteren Geruch ab. Über dem Bett hing von einem krumm in die Gipswand geschlagenen Nagel ein gerahmtes Beatles-Plakat - eine Vergrößerung des »Rubber-Soul«-Albums. Das Glas war von Schlieren bedeckt und zerbrochen und mit Fliegendreck gepunktet. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode mit Schubladen, auf der noch mehr zerfallene Litzen und Parfümfläschchen und Glasfiguren waren. Ich versuchte, eine Flasche aufzuheben, aber sie hing an der Litze fest. Eine Ameisenstraße lief über die Kommode. Mehrere tote Silberfische lagen zwischen den Flaschen verstreut.
Die Schubladen hatten sich verzogen und waren schwer aufzubekommen. Die obere war leer, von den Käfern abgesehen. Dasselbe mit allen anderen.
Ein Laut kam von der Türöffnung. Shirlee und Jasper standen da, hielten einander fest wie verängstigte Kinder, die einen Gewittersturm erleben.
»Ihr Zimmer«, sagte ich. »Genauso, wie sie es verlassen hat.«
Shirlee nickte. Jasper sah sie an und ahmte sie nach.
Ich versuchte mir Sharons Leben mit ihnen vorzustellen. Dass sie sie aufgezogen hatten. Martinis im Sonnenzimmer …
Ich lächelte, um meine Traurigkeit zu überspielen. Sie lächelten zurück, auch um etwas zu überspielen - eine servile Ängstlichkeit. Warteten auf meinen nächsten Befehl. Es gab so viel, das ich sie fragen wollte, aber ich wusste, dass sie mir alles gesagt hatten, was sie sagen durften. Ich sah die Angst in ihren Augen und suchte nach den richtigen Worten.
Bevor sie mir einfielen, füllte sich die Türöffnung mit Fleisch.
Er war nicht viel mehr als ein Kind - siebzehn oder achtzehn, immer noch mit Pfirsichflaum und Babygesicht. Aber riesig groß. Ein Meter fünfundneunzig. 280 Pfund, vielleicht dreißig davon Babyspeck. Mit rosa Haut und einem kurzen Hals, der breiter als sein Mondgesicht war. Er trug einen Kurzhaarschnitt und versuchte, ohne viel Erfolg, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen. Sein Mund wirkte winzig und verächtlich, seine Augen lagen halb verborgen
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