Sharon: die Frau, die zweimal starb
standen kniehoch im Dreck, erschreckt und völlig hilflos. Ich habe Sharon nicht gesehen, bis ich sie suchen ging und in ihrem Schuppen fand, sie stand in eine Decke gewickelt auf dem Bett und zitterte und schrie etwas über grüne Suppe. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Ich nahm sie in die Arme, um sie zu wärmen, aber sie rief weiter etwas über Suppe.
Als wir herauskamen, deutete Mr. Leidecker mit aufgerissenen Augen auf kleine Stücke grünen Papiers, die im Schlamm steckten und weggespült wurden: Geld, eine Menge. Zuerst dachte ich, es wäre Spielgeld - ich hatte Sharon ein paar Gesellschaftsspiele gegeben -, aber es war keins. Es war echt. Mr. Leidecker und mir gelang es, das meiste davon zu retten - wir hingen die nassen Scheine über unseren Herd, um sie zu trocknen, taten sie in eine Zigarrenschachtel und bewahrten sie auf. Als Erstes, nachdem die Regenzeit aufhörte, fuhr ich Shirlee und Jasper runter nach Yucaipa und richtete das Bankkonto ein. Ich unterschrieb alles für sie, nahm etwas heraus für meine Ausgaben, achtete darauf, dass sie den Rest sparten. Ich brachte ihnen ein bisschen elementare Mathematik bei, wie man rechnet, wie man wechselt. Sobald sie etwas erst einmal begriffen haben, behalten sie es gewöhnlich auch. Aber sie werden nie richtig begreifen, was sie da haben - einen netten, kleinen Notgroschen. Mit Kranken- und Sozialversicherung haben die für den Rest ihrer Tage ausgesorgt.«
»Wie alt sind sie?«
»Ich habe keine Ahnung, weil sie keine haben. Sie besitzen keine Papiere, wussten nicht mal, an welchem Tag sie geboren waren. Als wir Kranken- und Sozialversicherungsanträge stellten, schätzten wir ihr Alter, erfanden ihnen Geburtstage.«
Mrs.Weihnachten und Mr. Neujahr.
»Haben Sie den Antrag für Sharon zum College gestellt?«
»Ja. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.«
»Was haben Sie bei Sharons Geburtsdatum getan?«
»Sie und ich, wir beschlossen es gemeinsam, als sie zehn war.« Sie lächelte. »Vierter Juli. Ihre Unabhängigkeitserklärung. Ich setzte 1953 ein, ich bekam ziemlich genaue Angaben von der Ärztin, zu der ich sie brachte - Knochenalter geröntgt, Zähne, Größe und Gewicht. Sie war zwischen vier und fünf.«
Sharon und ich hatten einen anderen Geburtstag gefeiert, den 15. Mai, den 15. Mai 1957. Ein seltenes Geprasse - essen und tanzen und lieben. Eine andere Geschichte. Ich fragte mich, wofür dieses Datum wohl stehen mochte.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass sie biologisch das Kind der beiden gewesen sein könnte?«
»Unwahrscheinlich. Der Arzt hat sie alle untersucht und sagte, Shirlee sei fast mit Sicherheit steril. Also, woher ist sie wirklich gekommen? Eine Zeitlang lebten wir mit dem Albtraum, sie wäre das gekidnappte Baby von jemandem. Ich fuhr hinunter nach San Bernadino und sah sechs Jahrgänge von Zeitungen überall im Land durch, fand ein, zwei Fälle, die möglich klangen, aber als ich sie nachprüfte, erfuhr ich, dass beide Kinder ermordet worden waren. Ihre Herkunft blieb also ungewiss. Wenn Sie Shirlee danach fragen, kichert sie nur und sagt, Sharon wäre ihnen gegeben worden.«
»Sie hat mir gesagt, es sei ein Geheimnis.«
»Das ist eins ihrer Spiele - Geheimnis spielen. Sie sind wirklich wie Kinder.«
»Was ist Ihre Meinung, wie sie hergekommen sind?«
»Die gibt es nicht. Sehen Sie, der Arzt war nicht absolut sicher, dass Shirlee nicht gebären konnte - ›höchst unwahrscheinlich‹, hat er sich ausgedrückt. Also nehme ich an, alles ist möglich. Obwohl die Vorstellung, dass zwei so arme Seelen so etwas Erlesenes hervorbringen …« Ihre Stimme verlor sich. »Nein, Alex, ich habe keine Ahnung.«
»Sharon muss neugierig gewesen sein, woher sie kam, was ihre Wurzeln waren.«
»Das sollte man meinen, wie? Aber sie hat nie wirklich eine Identitätssuche durchgemacht. Nicht in ihrer Jugend. Sie wusste, dass sie anders als Shirlee und Jasper war, aber sie mochte die beiden gern, akzeptierte die Dinge so, wie sie waren. Der einzige Konflikt, den ich je gesehen habe, kam in dem Sommer, bevor sie zum College abflog. Das war sehr schwer für sie - sie war aufgeregt und hatte Angst und machte sich fürchterliche Vorwürfe, dass sie die beiden verließ. Sie wusste, dass sie einen Riesenschritt machte und dass das Leben nie mehr so wie früher sein würde.«
Sie blieb stehen, bückte sich, hob ein Eichenblatt auf und zwirbelte es zwischen den Fingern. Der Himmel zwischen den Bäumen wurde dunkler. Nicht eingeschüchtert
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