Sharon: die Frau, die zweimal starb
lang und gesund waren. »Die sehen gut aus, Shirl!« An mich gewandt, sagte sie: »Ihre sind so gesund! Sie wachsen schneller als meine, Alex. Ist das nicht merkwürdig?«
Später saßen wir im Alfa, und Sharon weinte eine Zeitlang. Dann fing sie an zu sprechen, mit der gleichen tonlosen, flachen Stimme, mit der sie mir vom Tod ihrer Eltern erzählt hatte.
»Wir wurden als eineiige Zwillinge geboren und waren absolut identisch miteinander. Kopien voneinander - ich meine, kein Mensch konnte uns unterscheiden.« Sie lachte. »Manchmal wussten wir selbst nicht mehr, wer wer war.«
Ich erinnerte mich an das Foto von den beiden kleinen Mädchen und sagte: »Ein Unterschied: spiegelverkehrt identisch.«
Da schien es sie zu durchzucken. »Ja. Das - sie ist eine Linkshänderin; ich bin Rechtshänderin, und die Richtung unserer Haarwirbel ist auch entgegengesetzt.«
Sie sah von mir weg, klopfte auf das Holzlenkrad des Alfas. »Komisches Phänomen, spiegelverkehrte eineiige Zwillinge - vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, biochemisch macht es überhaupt keinen Sinn. Wenn in zwei Individuen dieselbe genetische Struktur vorhanden ist, sollte es eigentlich überhaupt keinen Unterschied geben, richtig? Geschweige eine Umkehrung der Gehirnhälften.«
Ihre Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, und sie schloss sie.
»Ich danke dir vielmals, dass du mitgekommen bist, Alex. Es bedeutet mir wirklich viel.«
»Ich bin froh.«
Sie nahm meine Hand. Ihre zitterte.
»Sprich weiter«, bat ich. »Du sagtest gerade, wie ähnlich ihr beiden wart.«
»Kopien«, sagte sie. »Und unzertrennlich. Wir liebten einander von ganzem Herzen. Wir lebten füreinander, taten alles zusammen, weinten hysterisch, wenn irgendwer uns trennen wollte, bis es schließlich niemand mehr versuchte. Wir waren mehr als nur Schwestern. Mehr als nur Zwillinge. Wir waren Partnerinnen. Seelische Partnerinnen - wir teilten uns ein Bewusstsein. Als ob eine von uns nur in Gegenwart der anderen ganz sein konnte. Wir hatten unsere eigenen Sprachen; zwei Sprachen: eine gesprochene und eine auf Gesten und heimlichen Blicken beruhende. Wir hörten nie auf, miteinander zu kommunizieren - sogar, wenn wir schliefen, streckten wir uns aus, um einander zu berühren. Und wir hatten die gleichen Eingebungen und Vorstellungen.«
Sie hielt ein. »Das klingt in deinen Ohren vielleicht ungewohnt. Man kann es kaum jemandem erklären, der selbst nie einen Zwilling gehabt hat, Alex, aber glaub mir: Alle diese Geschichten, die man sich über den Synchronismus der Gefühle erzählt, sind wahr. Auf jeden Fall trafen sie auf uns zu. Sogar jetzt wache ich manchmal mitten in der Nacht mit Bauchschmerzen oder einem Krampf im Arm auf. Ich rufe Elmo an und höre, dass Shirlee eine schlechte Nacht gehabt hat.«
»Das klingt mir gar nicht ungewohnt. Ich habe davon gehört.«
»Danke, dass du das sagst.« Sie küsste meine Wange. Zupfte am Ohrläppchen. »Als wir klein waren, hatten wir ein wunderbares Leben zusammen. Mami und Daddy, die große Wohnung an der Park Avenue - all die Zimmer und Schränke und riesigen Wandschränke. Wir versteckten uns so gern - versteckten uns so gern vor der Welt. Unser Lieblingsspielplatz aber war das Sommerhaus in Southampton. Das Grundstück war seit Generationen im Besitz meiner Familie. Viele Hektar Gras und Sand. Eine große, alte weiße Bruchbude mit knarrenden Fußböden und Korbmöbeln, die auseinanderkrachten, staubigen, krummen alten Läufern und einem Kamin aus Feldsteinen. Ich saß gern oben auf einem Felsen mit Blick übers Meer, von dem es hierhin und dorthin hinunter ans Wasser ging. Nichts Besonderes - nur ein paar gequälte alte Kiefern und von Teer verschmierte Dünen. Der Strand machte einen Mondsichelbogen, so groß und nass und voll von Muschelspritzern. Es war da ein Steg, an dem Ruderboote vertäut lagen - es tanzte auf den Wellen, schwappte gegen all das verquollene Holz. Es erschreckte uns, aber auf eine nette Art - wir erschreckten uns so gern, Shirl und ich.
Im Herbst hatte der Himmel immer diesen schönen Grauton mit silbrig-gelben Löchern, wo die Sonne durchbrach. Und der Strand war voll von Hufeisenkrebsen und Einsiedlerkrebsen, von Quallen und Tang, den das Meer in riesigen Knäueln anspülte. Wir warfen uns da immer gern hinein und wickelten uns in das schleimige Zeug und taten so, als wären wir zwei kleine Seejungfrauprinzessinnen in seidenen Kleidern und mit Perlenhalsketten.«
Sie hielt an, biss
Weitere Kostenlose Bücher