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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Kalifornien, lernte dich kennen, fing an, wirklich zu leben. Dann veränderte sich alles - Mami und Daddy starben. Ich musste zurück in den Osten, mit dem Anwalt reden. Er war nett. Ein hübscher, väterlicher Mann - ich erinnerte mich vage an ihn, von Partys her. Er ging mit mir aus, in die russische Teestube, und erzählte mir von meinem Stiftungsfonds, dem Haus, redete eine Menge über neue Verantwortung, aber wollte nicht heraus mit der Sprache und sagen, worin sie bestand. Als ich ihn fragte, was er meinte, machte er ein unglückliches Gesicht, rief nach der Rechnung.
    Wir verließen das Restaurant und gingen die Fifth Avenue hinunter, an all den feinen Läden vorbei, die Mami immer so gemocht hatte. Wir gingen schweigend mehrere Querstraßen weit miteinander, und dann erzählte er mir von Shirlee. Dass sie nicht gestorben war, sondern sich im Koma befunden hatte, als Daddy sie aus dem Becken herausholte, und in dem Zustand geblieben war - beschädigt, mit minimaler Hirntätigkeit. Die ganze Zeit hatte ich sie für tot gehalten, während sie in einem Pflegeheim in Connecticut gelebt hatte. Mami war eine vollendete Dame, sehr fein, aber nicht stark, sie konnte mit Unglück nicht umgehen.
    Der Anwalt sagte, es müsse auf mich wie ein Schock wirken, es täte ihm leid, dass man mich belogen hätte, aber Mami und Daddy hätten es für das Beste gehalten. Nun allerdings lebten sie nicht mehr, und da ich die nächste Verwandte sei, trüge ich nun gesetzlich für sie Verantwortung. Nicht, dass mich das belasten müsste. Er, der Anwalt, und seine Firma würden die gesetzliche Verantwortung oder Pflegschaft übernehmen, alle ihre finanziellen Angelegenheiten regeln, ihren Stiftungsfonds verwalten, sodass ihre Unterbringungskosten weiterhin bezahlt würden. Es bestehe überhaupt keine Notwendigkeit, dass sich in meinem bisherigen Leben etwas veränderte. Er hatte Papiere für mich, die ich unterschreiben sollte, und alles würde erledigt.
    Ich bekam eine solche Wut, wie ich sie bei mir nie für möglich gehalten hätte, und fing an, ihn anzuschreien in seinem Büro an der Fifth Avenue, verlangte, sie zu sehen. Er versuchte, es mir auszureden, sagte, ich sollte warten, bis der Schock abgeklungen wäre. Aber ich bestand darauf. Ich musste sie sofort sehen.
    Er rief eine Limousine. Wir fuhren nach Connecticut. Das Haus war groß, und es sah nett aus, so ein altes steinernes Herrenhaus, gepflegter Rasen, eine große Sonnenveranda, Schwestern in gestärkten Trachten, Ärzte mit deutschen Akzenten. Aber sie brauchte mehr als das - sie brauchte ihre Partnerin. Ich sagte, sie käme mit mir zusammen nach Kalifornien, er solle sie innerhalb einer Woche abreisefertig machen.
    Er versuchte, mich wieder davon abzubringen. Sagte, er hätte so etwas schon gesehen: Schuldgefühle bei Überlebenden. Je mehr er redete, umso wütender wurde ich. Der arme Mann. Und da ich volljährig geworden war, blieb ihm keine Wahl. Ich kam zurück nach L.A. Nun hatte ich einen Zweck im Leben und kam mir sehr rechtschaffen vor. Edel. Nicht mehr nur eine Studentin unter anderen, in der Ausbildungsmühle gefangen, ich war eine Frau mit einer Aufgabe. Aber in dem Augenblick, in dem ich in mein Zimmer im Studentenwohnheim kam, wurde mir bewusst, wie riesig die Aufgabe war. Ich wusste: Mein Leben würde nie wieder so wie vorher sein, nie wieder normal werden. Ich ging damit um, indem ich aktiv blieb, den Anwalt herumkommandierte, in das Haus zog, Papiere unterschrieb. Versuchte mir einzureden, dass ich mein Leben im Griff hätte. Ich fand dieses Krankenhaus. Es sieht außen nicht großartig aus, aber sie behandeln sie hier wirklich gut. Elmo ist fantastisch, hundertprozentig nur auf sie konzentriert.«
    Sie hob meine Hand an die Wange, dann legte sie sie in ihren Schoß und hielt sie fest.
    »Nun du, Alex. Wie du in diesen Schlamassel gekommen bist. Der Abend, an dem du mich gefunden hast, wie ich das Foto in der Hand hatte, war kurz nachdem sie Shirlee hergeflogen hatten. Was für eine Arbeit, sie nur aus dem Flugzeug heraus und in einen Krankenwagen zu kriegen. Ich hatte tagelang nicht geschlafen, war nervös und erschöpft. Das Foto war in einem Karton mit anderen Familienpapieren gekommen; es war an dem Tag, an dem Mami starb, in ihrer Handtasche gewesen.
    Ich fing an, es anzustarren, verlor mich darin, fiel hinein wie Alice ins Loch: Ich versuchte alles im Nachhinein zu verstehen, mich an die schönen Tage zu erinnern. Aber ich war so wütend, dass man

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