Sharon: die Frau, die zweimal starb
näher heran: »Ich weiß, ich habe alles verdorben.« Sie sagte es mit einem Flüstern. »Glaub mir, ich weiß es. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du nach all den Jahren noch immer bei mir bist. Schöne Erinnerungen, besondere Erinnerungen. Positive Energie.«
»Selektive Wahrnehmung«, entgegnete ich.
»Nein.« Sie rückte näher heran, berührte wieder meinen Ärmel. »Wir hatten wunderschöne Zeiten zusammen, Alex. Das lasse ich nie los.«
Ich sagte nichts.
»Alex, so wie wir … wie das geendet hat. Ich habe mich schrecklich benommen. Du musstest denken, ich sei psychotisch - was geschehen ist, war eine Psychose. Wenn du wüsstest, wie oft ich dich anrufen wollte, um es dir zu erklären -«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Weil ich ein Feigling bin. Ich laufe vor den Dingen weg. Das ist so meine Art - du hast das sofort beim ersten Mal gemerkt, als wir uns kennenlernten im Praktikum.« Ihre Schultern fielen herab. »Manches ändert sich nie.«
»Vergiss es. Wie ich sagte, es ist vorbei.«
»Was wir hatten, war etwas Besonderes, Alex. Und ich habe zugelassen, dass es zerstört wurde.«
Ihre Stimme wurde leiser, aber sie rang immer nach Luft, wenn sie sprach. Der Barkeeper sah interessiert herüber. Ich schaute ihn strafend an.
»Du hast es zugelassen?«, fragte ich. »Das klingt ziemlich passiv.«
Sie wich zurück, als hätte ich ihr ins Gesicht gespuckt. »In Ordnung«, sagte sie. » Ich habe es zerstört. Ich war verrückt. Es war eine verrückte Zeit in meinem Leben - denk nicht, dass ich’s nicht tausend Mal bereut habe.«
Sie zog an ihrem Ohrläppchen. Ihre Hände waren glatt und weiß. »Alex, dass ich dich hier heute treffe, ist kein Zufall. Ich besuche nie Kongresse, hatte nicht vor, zu diesem zu kommen. Aber als ich das Heft mit der Post bekam und deinen Namen im Programm sah, wollte ich dich plötzlich wiedersehen. Ich habe deine ganze Rede hindurch im Saal gesessen und dann hinten gestanden. Wie du gesprochen hast - deine Menschlichkeit. Ich dachte, ich hätte eine Chance.«
»Eine Chance wozu?«
»Für Freundschaft, um die bösen Gefühle zu vergessen.«
»Betrachte sie als vergessen. Mission beendet.«
Sie beugte sich vor, sodass unsere Lippen sich fast berührten, klammerte sich an meine Schulter und flüsterte: »Bitte, Alex, sei nicht nachtragend. Lass mich dir was zeigen.«
Tränen waren in ihren Augen.
»Mir was zeigen?«, fragte ich.
»Eine andere Seite von mir. Etwas, was ich noch nie jemandem gezeigt habe.«
Wir gingen vors Hotel, warteten auf die Hoteldiener, die die Wagen parkten.
»Jeder im eigenen Wagen«, sagte sie und lächelte. »Damit du jederzeit flüchten kannst, wenn du möchtest.«
Die Adresse, die sie mir gab, befand sich südlich von Glendale, am anderen Ende der Stadt, wo die Gebrauchtwagenplätze, Absteigen, Ramschläden samt Fixerlöffel lagen. Eine halbe Meile nördlich, auf Brand Street, baute man die Glendale Galleria, ein ziegelsteinernes Schmuckstück und Beweis für die Verschönerung der Innenstadt - dort unten aber war Boutique immer noch ein unanständiges Fremdwort.
Sie kam vor mir an, saß in dem kleinen roten Alfa vor einem einstöckigen braunen Stuckgebäude. Es sah wie ein Gefängnis aus - schmale versilberte und vergitterte Fenster, die Eingangstür eine Fläche aus poliertem Stahl, keine Pflanzen außer einem einzelnen durstigen Liquidambarbaum, der seinen spärlichen Schatten auf ein Teerpappedach warf.
Sie empfing mich an der Tür, dankte mir, dass ich gekommen war, dann drückte sie auf einen Knopf in der Mitte der Stahltür.
Ein paar Augenblicke später öffnete ein untersetzter kohlschwarzer Mann mit kurzem Haar und einem Korkenzieherkinnbart. Er trug einen Brillanten in einem Ohr, eine hellblaue Uniformjacke über einem schwarzen T-Shirt und Jeans. Als er Sharon sah, blitzten seine Goldkronen.
»Guten Tag, Frau Dr. Ransom.« Seine Stimme war hoch und sanft.
»Guten Tag, Elmo. Das ist Dr. Delaware, ein Freund von mir.«
»Schön, Sie kennenzulernen, Sir.« Zu Sharon: »Sie ist hübsch zurechtgemacht und wartet auf Sie.«
»Das ist großartig, Elmo.«
Er ging beiseite, und wir betraten ein Wartezimmer mit einem rötlichen Linoleumfußboden, möbliert mit orangefarbenen Plastikstühlen und grünen Tischen. Auf der einen Seite befand sich ein Büro mit der Aufschrift ANMELDUNG. Wir gingen daran vorbei und kamen zu einer anderen Stahltür, auf der KEIN EINTRITT stand. Elmo wählte einen Schlüssel von
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