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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Decke. Gute Möbel, ein antiker Schreibtisch mit Spiegel, ein paar robuste Eichensessel. Zwei großzügige, oben mit Bogen versehene Fenster, vergittert und mit undurchsichtigen Scheiben, aber mit einem Chintzvorhang und Tüllgardinen. Der Raum roch wie eine Wiese. Aber mein Interesse galt nicht den Feinheiten der Dekoration.
    In der Mitte des Raums stand ein Krankenhausbett mit einer perlig-rosa glänzenden Decke drauf, die einer schwarzhaarigen Frau bis zum Kinn reichte.
    Die Haut war grauweiß, ihre Augen waren riesig und dunkelblau - von derselben Farbe wie Sharons, aber mit einem Film bedeckt und unbeweglich, gerade hinauf gegen die Decke gerichtet. Ihr schwarzes, volles Haar lag ausgebreitet auf einem dicken, mit Spitzen besetzten Kissen. Das Gesicht, das es umrahmte, war eingefallen, staubtrocken und sah wie ein Gipsabdruck aus. Ihr Mund stand offen - ein schwarzes, von Zahnstummeln umrandetes Loch.
    Eine schwache Bewegung wellte die Bettdecke leicht. Flacher Atem, dann nichts, die Wiederbelebung von einem Quieken wie dem eines Gummitiers angekündigt.
    Ich betrachtete ihr Gesicht. Weniger ein Gesicht als die Skizze eines solchen - anatomisches Gerüst, des schmückenden Fleisches beraubt.
    Und irgendwo mitten in den Ruinen eine Ähnlichkeit. Eine Andeutung von Sharon.
    Sharon hielt sie im Arm, wiegte sie, küsste ihr Gesicht.
    Quiek!
    Auf einem Rolltisch neben ihrem Bett standen ein Krug und Gläser, daneben lagen ein Schildpattkamm und ein Satz Bürsten mit passendem Manikürezeug. Lippenstift, Papiertücher, Make-up, Nagellack.
    Sharon deutete auf den Krug. Elmo füllte das Glas mit Wasser und reichte es ihr, dann ging er.
    Sharon hielt der Frau den Rand des Glases an die Lippen. Etwas von dem Wasser rann hinunter. Sharon wischte die bleiche Haut ab und küsste sie.
    »Es ist so gut, dich zu sehen, Liebling«, sagte sie. »Elmo sagt, du machst dich prima.«
    Die Frau blieb ungerührt, ihr Gesicht weiß wie eine Eierschale. Sharon gurrte mit ihr und wiegte sie hin und her. Die Bettdecke glitt herab, und ein mattes Bündel von einem Menschen wurde sichtbar, der in ein rosa Flanellnachthemd gehüllt war, qualvoll verkrampft, zu zerbrechlich, um lebensfähig zu sein. Aber der Atem hörte nicht auf.
    »Shirlee, wir haben Besuch. Er heißt Dr. Alex Delaware. Er ist ein netter Mann. Also, darf ich Ihnen Miss Shirlee Ransom vorstellen? Meine Schwester. Meine Zwillingsschwester, meine stille Partnerin.«
    Ich stand einfach nur da.
    Sie streichelte das Haar der Frau. »Klinisch ist Shirlee taub und blind - minimale kortikale Funktionen. Aber ich weiß, dass sie die Menschen fühlt, dass sie eine unterbewusste Vorstellung von ihrer Umgebung hat. Ich kann es spüren, sie gibt kleine Vibrationen ab. Du musst auf ihrer Wellenlänge sein, sie unmittelbar berühren, um diese Schwingungen zu fühlen.«
    Sie nahm meine Hand und legte sie auf eine kalte, trockene Stirn. Sie wandte sich an Shirlee und sagte: »Ist das nicht wahr, Liebling? Du weißt, was vor sich geht, nicht wahr? Du summst ja heute ganz schön. Sag was zu ihr, Alex.«
    »Hallo, Shirlee.« Nichts.
    »Da«, sagte Sharon. »Sie summt.«
    Sie hatte nicht aufgehört zu lächeln, aber in ihren Augen standen Tränen. Sie ließ meine Hand los und sagte zu ihrer Schwester: »Alex Delaware, Liebling. Von dem ich dir erzählt habe, Shirl. So hübsch, nicht? Hübsch und gut.«
    Ich wartete, während sie mit der Frau redete, die nicht hören konnte. Sie sang, plapperte über Mode, Musik, Rezepte, Tagesereignisse.
    Dann faltete sie die Decke zurück, rollte das rosa Nachthemd hinauf und legte Hühnergerippe frei, Stockbeine, spitze Knie, schlaffe, spachtelkittgraue Haut - die Überreste einer so fürchterlich verfallenen Frau, dass ich wegsehen musste.
    Sharon drehte ihre Schwester vorsichtig um und suchte nach wunden Stellen. Knetete sie und streichelte sie, massierte sie, bog Arme und Beine auseinander und wieder zusammen, drehte die Kinnlade hin und her, sah hinter ihre Ohren, bevor sie sie wieder zudeckte.
    Nachdem sie sie wieder unter die rosa Bettdecke gesteckt und das Kissen aufgerichtet hatte, bürstete sie Shirlees Haar mit hundert Strichen ihrer Schildpattbürste, wischte ihr das Gesicht mit einem feuchten Waschlappen ab, puderte ihre eingefallenen Wangen, trug Make-up auf und Rouge.
    »Ich möchte, dass sie so damenhaft wie möglich aussieht. Für ihre Moral. Ihren weiblichen Selbstwert.«
    Sie hob eine schlaffe Hand, prüfte die Fingernägel, die überraschend

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