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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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abgesaugt, der zu einer Kiesgrube lief. Ungefähr drei Viertel waren noch drinnen - säuregrün und Blasen schlagend, und schlimmer stinkend als je zuvor. Schwefelgas gemischt mit all den Chemikalien, die der Hausmeister hineingekippt hatte. Wir fingen an zu husten und brachen dann in ein Gelächter aus. Das war wirklich ungeheuer - wir fanden es ganz toll.
    Wir taten so, als kämen die Ungeheuer aus dem Glibber heraus, fingen an, einander um das Becken herumzuhetzen, kreischten und kicherten, machten Ungeheuergesichter, rannten schneller, immer schneller, steigerten uns in eine Raserei hinein - in einen hypnotischen Zustand. Alles verschwamm vor unseren Augen - wir sahen nur noch uns.
    Der Beton war glitschig von all den Algen und den schleimigen, seifigen Chemikalienresten. Unsere Galoschen waren glatt, und wir fingen an zu schlittern. Das machte uns auch großen Spaß, wir taten so, als wären wir auf einer Eisbahn und rutschten darauf herum. Es war herrlich, wir hatten unser Vergnügen, verloren an den Augenblick, in dem wir uns auf unser inneres Wesen konzentrierten - als ob wir ein einziges Ich wären. Rundherum glitten wir, jauchzten und schlitterten dahin. Dann ganz plötzlich sah ich Shirl einen großen Satz machen und immer weiterrutschen, sah einen schrecklichen Ausdruck in ihr Gesicht kommen, als sie die Arme hochwarf auf der Suche nach dem Gleichgewicht. Sie rief um Hilfe. Ich wusste, dass das kein Spiel mehr war, und rannte los, um sie festzuhalten; aber ich landete auf dem Hintern, gerade als sie einen entsetzlichen Schrei ausstieß und, die Füße zuerst, in das Becken fiel.
    Ich rappelte mich hoch, sah ihre Hand herausgucken, ihre Finger krümmten sich, streckten sich wieder, ich warf mich ihr entgegen, konnte sie aber nicht erreichen, fing an zu weinen und nach Hilfe zu schreien. Ich stolperte wieder, fiel noch einmal auf den Hintern, kam schließlich hoch und rannte zum Beckenrand. Die Hand war weg. Ich schrie ihren Namen - die Nanny kam. Wie sie aussah - die Überraschung, der Schreck, als sie hereingekommen war, fielen mir auf, und ich musste immer daran denken, und ich schrie immer weiter, als die Nanny mich fragte, wo Shirl wäre. Ich konnte nicht antworten. Ich musste immerzu an sie denken, ich war sie geworden. Ich wusste, dass sie ertrank, fühlte selbst das Würgen und Ersticken, schluckte das faulige Wasser, das mir in der Nase und im Mund und in den Lungen steckte!
    Die Nanny schüttelte mich, gab mir Ohrfeigen ins Gesicht. Ich keuchte, aber irgendwie gelang es mir, auf das Schwimmbecken zu zeigen.
    Dann waren Mami und Daddy da, einige von den Helfern. Die Nanny sprang rein. Mami schrie ›Mein Kind, mein Kind!‹ - biss sich in die Finger - sie bluteten überall auf ihr Kleid. Die Nanny plantschte herum und schlug um sich, kam prustend wieder empor, voller Schlamm. Daddy kickte die Schuhe weg, riss sich die Jacke vom Leib, sprang ins Becken und tauchte. Einen Augenblick darauf kam er mit Shirlee in den Armen herauf. Daddy versuchte es mit künstlicher Beatmung. Mami keuchte immer noch - an ihren Fingern lief das Blut herunter. Die Nanny lag auf dem Boden und sah selbst tot aus. Die Helferinnen schluchzten. Die Hausmeister starrten uns an. Mich starrten sie an, dachte ich. Sie warfen es mir vor! Ich fing an zu heulen und stürzte mich auf sie, um sie zu zerkratzen … Jemand sagte: ›Bringt sie weg!‹ Und alles wurde schwarz.«
    Als sie die Geschichte erzählte, brach ihr der Schweiß aus. Ich gab ihr ein Taschentuch. Sie nahm es ohne Kommentar, wischte sich das Gesicht ab und sagte: »Ich wachte in der Park Avenue auf. Es war der nächste Tag; jemand muss mir ein Beruhigungsmittel gegeben haben. Sie sagten mir, Shirlee wäre gestorben, begraben. Nichts wurde mehr über sie gesagt. Mein Leben war verändert, leer - aber ich will nicht darüber reden. Sogar jetzt kann ich noch nicht darüber sprechen. Es genügt zu sagen, dass ich mich wieder aufbauen musste. Neu aufbauen musste. Ich musste lernen, ein neuer Mensch zu sein. Eine Partnerin ohne Partnerin. Ich akzeptierte es allmählich, lebte in meinem Kopf, fern von der Welt. Irgendwann hörte ich auf, an Shirlee zu denken - hörte bewusst und absichtlich auf. Ich machte alles mit, was man so mitmacht. War ein gutes Mädchen. Bekam gute Zensuren. Wurde nie laut. Hob nie die Stimme. Aber innerlich war ich leer - etwas fehlte mir. Ich beschloss, dass ich Psychologin werden wollte. Um zu erfahren, warum das so war. Ich kam hierher nach

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