Sharpes Beute
Indien waren die britischen Offiziere beim Gestank der Straßen erschauert, und niemand war dort hindurchgegangen. Sharpe fand, dass selbst die schlimmsten Straßen in Indien besser als die in diesem stinkenden Viertel waren, wo die Leute verhärmte Gesichter hatten, eingesunken vor Hunger, und ihre Augen gierig und scharf blickten, besonders, wenn sie den Tornister in Sharpes linker Hand sahen. Sie sahen den schweren Tornister, einen Säbel und schätzten den Wert des Mantels um seine breiten Schultern. Da war mehr Wert an Sharpes Äußerem, als diese Leute in einem halben Dutzend Jahren sahen, obwohl Sharpe sich als arm betrachtete. Er war einmal in seinem Leben reich gewesen. Er hatte dem sterbenden Tippu Sultan die Juwelen abgenommen in dem stinkenden Tunnel beim Wassertor in Seringapatam. Aber diese Juwelen waren weg. Verdammte Anwälte. Gottverdammte Anwälte.
Aber wenn die Leute den Wohlstand an Sharpe sahen, dann bemerkten sie auch, dass er sehr groß und stark und sein Gesicht narbig, hart und verbittert war und Gefährlichkeit ausstrahlte. Man musste schon verzweifelt hungrig sein, um zu versuchen, Sharpe den Mantel oder Tornister zu rauben, und so beobachteten sie ihn, als er sie passierte, wie Wölfe, die Blut rochen, aber befürchteten, ihr eigenes zu verlieren, wenn sie ihm zu nahe kamen. Obwohl ihm einige die Wapping Lane hinauf folgten, blieben sie zurück, als er in die Brewhouse Lane einbog. Dort befanden sich das Armenhaus und das Waisenhaus, und niemand ging zu den düsteren hohen Mauern, wenn es nicht sein musste.
Sharpe stand im Torweg der alten Brauerei, die schon lange stillgelegt war, und starrte über die Straße zu den Wänden des Arbeitshauses. Rechter Hand befand sich das Armenhaus, hauptsächlich für diejenigen, die zu alt zum Arbeiten oder krank oder von ihren Kindern verlassen waren. Vermieter hatten sie auf die Straße gesetzt, und kirchliche Wohlfahrtsorganisationen hatten sie hier untergebracht, die Männer in einem Flügel von Jem Hockings Königreich, die Frauen im anderen. Hier starben sie. Den Ehemännern war es verboten, mit ihren Frauen zu sprechen, und alle waren halb verhungert, bis ihre Leichen in einem Armengrab beigesetzt wurden.
Dies war das Armenhaus, und es war vom Waisenhaus durch ein schmales, dreistöckiges Backsteinhaus mit weiß angestrichenen Fensterläden und einer schmiedeeisernen Laterne über der tadellos geschrubbten Eingangstreppe getrennt.
Das Haus des Masters. Jem Hockings kleiner Palast, der das Waisenhaus überblickte, das wie das Armenhaus ein eigenes Eingangstor hatte: eine schwarze Schranke aus schwerem Holz, das mit Teer beschmiert und mit rostigen, langen Eisenspitzen gekrönt war. Ein Gefängnis für Waisenkinder. Die Behörden schickten schwangere Mädchen hierher, die obdachlos oder zu krank waren, um ihre aufgequollenen Körper auf den Straßen zu verkaufen. Ihre unehelichen Kinder wurden hier geboren, und oftmals starben die Mütter am Fieber. Diejenigen, die überlebten, gingen zurück auf die Straßen und überließen ihre Kinder der Obhut von Jem Hocking und seiner Frau.
Es war einstmals Sharpes Heim gewesen. Und jetzt war es Freitag.
Er überquerte die Straße und hämmerte gegen das Türchen, das ins Eingangstor des Waisenhauses eingelassen war. Grace hatte hierherkommen wollen. Sie hatte sich Sharpes Geschichten angehört und geglaubt, sie könne die Dinge ändern, doch es war nie Zeit dazu gewesen. So würde Sharpe die Dinge jetzt ändern. Er hob die Hand, um von Neuem gegen das Tor zu hämmern, als es sich plötzlich öffnete, und ein blasser, ängstlicher junger Mann vor Sharpes erhobener Faust zurückzuckte.
»Wer sind Sie?«, fragte Sharpe, als er durch das einen Spalt geöffnete Tor schritt.
»Sir?« Der junge Mann hatte dieselbe Frage stellen wollen.
»Wer sind Sie?«, wiederholte Sharpe. »Kommen Sie schon, Mann, ich will eine Antwort. Und wo ist der Master?«
»Der Master ist in seinem Haus, aber ...« Der junge Mann verhaspelte sich und versuchte Sharpe den Weg zu verstellen. »Sie können da nicht rein, Mister!«
»Warum nicht?« Sharpe hatte den kleinen Hof überquert und schob jetzt die Tür zur Eingangshalle auf. Als er ein Kind gewesen war, hatte er sie für einen großen Raum gehalten, aber jetzt sah sie schmutzig und klein aus. Kaum größer als eine Kasernenstube in der Kompanie, dachte er.
Es war Abendessenzeit, und dreißig oder mehr Kinder saßen auf dem Boden zwischen dem Werg und den mit Teer
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