Sharpes Feuerprobe
Abend bei Einbruch der Nacht verließen die Wächter den Kerker, doch vorher ließen sie den Tiger frei. Es war eine schwierige Prozedur, denn der Tiger musste mit langen Speeren von den Wächtern ferngehalten werden, wenn sie sich die Treppe hinauf zurückzogen. Offensichtlich hatte der Tiger schon einmal versucht, sie anzugreifen, denn er hatte eine lange Narbe an der muskulösen gestreiften Flanke. Und um solche Angriffe zu vermeiden, warfen die Wächter ein großes Stück rohes Fleisch mit Knochen herunter, um den Hunger des Tigers zu stillen, bevor sie ihn freiließen.
Die Gefangenen verbrachten Stunden der Nacht damit, zuzuhören, wie die Bestie die letzten Stücke Fleisch abriss und hinunterschlang. Jedes Mal in der Morgendämmerung wurde der Tiger in seine Zelle zurückgetrieben, wo er in der Hitze des Tages bis zur nächsten Wachzeit schlief. Es war eine riesige und räudige Bestie, nicht annähernd so schlank wie die sechs Tiger im Hof des Palastes, doch mit einem gierigeren Blick.
Sharpe beobachtete manchmal, wie er auf dem kurzen Gang auf und ab tappte, fast lautlos auf den Steinplatten, und er fragte sich, welche Gedanken sich hinter den glänzenden gelben Augen zusammenbrauten. Manchmal brüllte er fauchend ohne erkennbaren Grund in der Nacht, und die Jagd-Geparden fauchten zurück, und die Nacht war von tierischen Lauten erfüllt. Dann sprang der Tiger geschmeidig die Treppe hinauf und brüllte durch das Gitter hinaus. Er kam stets wieder hinunter und tigerte zwischen den Zellen herum, und sein Nahen war stumm, der Blick unheilvoll und böswillig.
Des Tags, wenn der Tiger gelegentlich in seinem Schlaf zuckte, wurden die Zellen von den Wächtern beobachtet. Manchmal waren sie nur zu zweit, doch zuweilen auch zu sechst. Jeden Morgen trafen in eisernen Beinfesseln Gefangene aus dem zivilen Stadtgefängnis ein, um die Eimer mit der Notdurft wegzubringen, und wenn sie die geleerten Eimer zurückgebracht hatten, gab es die erste Mahlzeit. Für gewöhnlich war es kalter Reis, manchmal mit Bohnen oder Fischstückchen, und ein Blechkrug mit Wasser. Ein zweiter Eimer mit Reis wurde am Nachmittag gebracht, doch sonst wurden die Gefangenen allein gelassen.
Sie lauschten den Geräuschen über ihnen, immer mit der Furcht, dass sie zu dem Sultan befohlen wurden und seinen Killern gegenüberstehen würden, und während sie warteten, betete McCandless, Hakeswill spottete, Lawford sorgte sich, und Sharpe lernte, die Buchstaben zu schreiben.
Zuerst lernte er hart, und es wurde ihm durch Hakeswills ständiges Gespött nicht gerade erleichtert. Lawford und McCandless ermahnten den Sergeant zur Ruhe, doch nach einer Weile kicherte Hakeswill von Neuem und begann in der fernen Ecke seines Käfigs mit sich selbst zu reden.
»Er wächst über sich hinaus, nicht wahr?«, murmelte Hakeswill laut genug, dass Sharpe es hören konnte. »Bringt sich Selbstsicherheit und feine Umgangsformen bei! Sharpe ist irre geworden. Vollkommen durchgedreht! Versucht Lesen zu lernen! Da könnte man auch einen Stein das Furzen lehren. Das ist nicht natürlich, das ist nicht richtig. Ein Private sollte wissen, dass er ein Stück Dreck ist. So steht es in der Bibel!«
»Darin steht nichts in dieser Art, Sergeant!«, rief McCandless, immer ärgerlich nach einer solchen Behauptung.
Und stets, bei jedem Tagesanbruch, waren die Geschütze der Belagerer zu hören. Ihr Donnern erfüllte die Luft und hallte beim Klatschen von Eisen auf sonnengetrocknetem Schlamm wider, wenn die Kugeln der 18-Pfünder auf den Wall schlugen, während – näher – die Geschütze Tippus antworteten. Nur wenige solcher Kanonen waren auf dem Westwall einsatzfähig geblieben, doch näher beim Kerker auf der nördlichen Brustwehr schickten Tippus Kanoniere mit den Batterien Schuss auf Schuss über den Kaveri, und das Krachen der Waffen erfüllte unablässig die warme Luft.
»Arbeiten hart, die Kanoniere!«, sagte Hakeswill. »Machen einen richtigen Job, wie es bei richtigen Soldaten sein sollte. Vergießen ’ne Menge Schweiß. Verplempern nicht ihre Zeit mit verdammten Buchstaben. K-A-T-Z-E? Wer, zur Hölle, will das wissen? Es bleibt immer noch eine verdammte Katze. Man braucht nur zu wissen, wie man das Ding abhäutet, nicht wie man es buchstabiert.«
»Ruhig, Sergeant«, grollte McCandless.
»Jawohl, Sir. Ich werde ruhig sein, Sir. Wie eine Kirchenmaus, Sir.«
Doch einen Augenblick später murmelte der Sergeant wieder vor sich hin. »Private Morgan, ich erinnere
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