Sharpes Feuerprobe
am Leben gelassen, und das ist mehr, als die meisten Monarchen jemals tun würden. Die meisten Thronräuber töten die vorherigen Herrscher des Landes, doch das hat er hier nicht getan. Ich kann ihm natürlich nicht verzeihen, was er unseren armen Gefangenen angetan hat, aber ich nehme an, dass einige launenhafte Grausamkeiten vermutlich für einen Herrscher notwendig sind. Alles in allem denke ich, und ich beurteile ihn nach den Standards unserer eigenen Monarchie, wir sollten dem Sultan fairerweise gute Noten geben.«
»Und warum, zum Teufel, bekämpfen wir ihn, Sir?«
McCandless lächelte. »Weil wir hier sein wollen und er uns nicht hier haben will. Zwei Hunde in einem kleinen Käfig, Sharpe. Und wenn er uns aus Maisur verjagt, wird er die Franzosen ins Spiel bringen und uns aus dem Rest von Indien hinausjagen, und dann können wir dem besten Teil unseres östlichen Handels Lebewohl sagen. Darum geht es, Sharpe, Handel. Deshalb kämpfen Sie hier, um den Handel.«
Sharpe verzog das Gesicht. »Das scheint ein komisches Motiv für den Kampf zu sein, Sir.«
»So, finden Sie?« McCandless wirkte überrascht. »Nicht für mich, Sharpe. Ohne Handel gibt es keinen Wohlstand, und ohne Wohlstand taugt keine Gesellschaft. Ohne Handel, Private Sharpe, wären wir nichts als Bestien im Schlamm. Der Handel ist es in der Tat wert, dafür zu kämpfen, obwohl der liebe Gott weiß, dass wir den Handel nicht sehr schätzen. Wir feiern Könige. Wir ehren große Männer, wir bewundern Adlige, wir applaudieren Schauspielern, wir überhäufen Porträtmaler mit Gold und belohnen sogar manchmal Soldaten, doch wir verachten immer die Händler. Aber warum? Es ist der Wohlstand der Händler, der die Mühlen betreibt, Sharpe. Er bewegt die Webstühle, lässt den Hammer schlagen, füllt die Flotten, baut die Straßen, schmiedet das Eisen, baut den Weizen an, backt das Brot, erbaut die Kirchen, Häuser und Paläste. Ohne Gott und Handel wären wir nichts.«
Sharpe lachte leise. »Handel hat mir nie etwas bedeutet, Sir.«
»Nicht?«, fragte McCandless sanft. Der Colonel lächelte. »Was finden Sie denn des Kämpfens wert, Private?«
»Freunde, Sir. Und Stolz. Wir müssen zeigen, dass wir besser sind als die andere Seite.«
»Sie kämpfen nicht für den König oder das Land?«
»Den König habe ich nie kennen gelernt, Sir. Habe ihn sogar nie gesehen.«
»Es ist auch kein besonderer Anblick, aber der Mann ist anständig genug, wenn er nicht verrückt ist.« McCandless starrte hinüber zu Hakeswill. »Ist er verrückt?«
»Ich glaube, ja, Sir.«
»Arme Seele.«
»Er ist auch teuflisch«, sagte Sharpe so leise, dass Hakeswill es nicht hören konnte. »Hat eine Freude daran, Männer zu bestrafen, Sir. Er stiehlt, lügt, vergewaltigt und mordet.«
»Und Sie haben nichts dergleichen getan?«
»Nie vergewaltigt, Sir, und was das andere anbetrifft, nur, wenn es sein musste.«
»Dann bete ich zu Gott, dass Sie es nie wieder werden tun müssen«, sagte McCandless inbrünstig. Dann lehnte er seinen grauen Kopf gegen die Wand und versuchte zu schlafen.
Sharpe beobachtete, wie das Dämmerlicht in den Kerker sickerte. Die letzten Fledermäuse der Nacht hoben sich vor dem Streifen Himmel oberhalb ab, doch bald würden sie verschwunden sein, und das erste Geschütz des Tages würde sprechen.
Der Eröffnungsschuss des Tages war auf die niedrige Schlammwand gezielt, welche die Lücke in dem Glacis schloss und das Wasser im Graben dahinter staute. Der Wall war dick, und der Schuss traf tief und verlor viel von seiner Wucht, als er vom Flussufer abprallte und nur Staub aus den Fugen des Walls fegte.
Ein Belagerungsgeschütz nach dem anderen erwachte und räusperte sich die Kehle frei. Die ersten paar Schüsse waren oftmals lasch und gleichgültig abgegeben, denn die Waffenläufe waren noch kühl, und so flogen die Kugeln tief.
Eine Hand voll Geschütze antwortete dem Beschuss von den Stadtwällen aus, doch keines davon war groß. Tippu verbarg seine großen Geschütze für den Angriff, aber er erlaubte seinen Kanonieren, ihre kleinen Kanonen zu bemannen und abzufeuern, von denen einige nur Kugeln abfeuerten, die nicht größer als Kartätschen waren. Das Feuer der Verteidiger richtete keinen Schaden an, doch allein das Krachen der Geschütze gab den Bürgern der Stadt das Gefühl, zurückzukämpfen.
Heute Morgen schien der Beschuss der Briten unregelmäßig zu sein. Jede Batterie war bei der Arbeit, doch ihr Feuer war nicht koordiniert.
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