Sharpes Feuerprobe
dieser Welt oder der nächsten ist. Ich möchte nicht am falschen Ende von einem Dutzend solcher Dinger sein.«
Hinter ihnen, von einem der hohen weißen Minarette der neuen Moschee, rief der Muezzin zum Abendgebet, und die moslemischen Raketenwerfer beeilten sich, ihre schmalen Gebetsmatten gen Westen nach Mekka zu richten.
Sharpe und Lawford blickten ebenfalls westwärts, nicht aus Respekt für die Religion Tippus, sondern weil die Vorhut der britischen und indischen Kavallerie das flache Terrain jenseits des Südlichen Kaveri erkundete, das oben vom Maisur-Tor deutlich zu sehen war.
Die Hauptstreitmacht der beiden Armeen schlug ihr Biwak weit im Süden der Stadt auf, doch die Reiter waren vorausgeritten, um das Land im Westen für den kurzen Marsch des nächsten Tages zu erkunden. Sharpe konnte sogar Offiziere sehen, die hin und her schritten und markierten, wo die lascars , die indischen Träger, die Armeezelte aufschlagen würden. General Harris hatte anscheinend entschieden, von Westen anzugreifen, wovor McCandless gewarnt hatte.
»Verdammte Narren«, sagte Sharpe, obwohl weder er noch Lawford wussten, was am westlichen Festungswall gefährlich war. Ebenso wenig hatte man ihnen die geringste Chance gegeben, aus der Stadt zu entkommen. Sie waren immer bewacht, sie durften nicht nachts Wache halten, und Sharpe wusste, dass selbst der kleinste Versuch, aus der Stadt zu flüchten, zum sofortigen Tod führen würde.
Sonst wurden sie allerdings nicht schlecht behandelt. Sie waren von ihren neuen Kameraden gut genug akzeptiert worden, doch Sharpe konnte eine gewisse Zurückhaltung spüren und nahm an, dass es immer ein unterschwelliges Misstrauen gegen sie geben würde, bis er und Lawford ihre Zuverlässigkeit bewiesen hatten.
»Es ist ja nicht so, als ob sie euch nicht vertrauen«, hatte Henry Hickson in ihrer ersten Nacht erklärt, »doch bis sie sehen, dass ihr tatsächlich ein paar Kugeln auf eure alten Kameraden verballert, wissen sie nicht, ob sie sich voll und ganz auf euch verlassen können.« Hickson nähte den ausgefransten Saum seines ledernen Futterals, das den Mittelfinger seiner Hand schützte, wenn eine Kanone ausgescheuert wurde. Der Kanonier musste das Zündloch zuhalten, sodass der Ansetzer keinen Strom frischer Luft in den Lauf treiben und so irgendwelche verbliebenen Pulverreste entzünden konnte.
Hicksons altes und geschwärztes Futteral verriet, wie lange er Artillerist war.
»Diesen hatte ich schon in Amerika«, sagte Hickson und schwang das alte Stück Leder. »Genäht von einem kleinen Mädchen in Charleston. Ein süßes kleines Ding war sie.«
»Wie lange bist du bei der Artillerie?«, hatte Lawford den grauhaarigen Hickson gefragt.
»Verdammt ein Leben lang, Bill. Bin ’76 zur Armee gegangen.« Hickson lachte. »Für König und Vaterland! Geh und rette die Kolonien. Und alles, was ich getan habe, war hin und her marschieren wie ein kleines verlorenes Lamm. Ich habe kaum mehr als ein Dutzend Schüsse abgefeuert. Ich hätte dabei bleiben sollen, wenn sie uns nicht rausgeschmissen hätten, aber ich Blödmann habe es anders gewollt. Ich ging nach Gibraltar, polierte ein paar Jahre lang Kanonen und wurde dann hierhin abkommandiert.«
»Und warum bist du desertiert?«, fragte Lawford.
»Geld, natürlich. Tippu mag ein schwarzer heidnischer Bastard sein, doch er zahlt gut für Kanoniere. Wenn er überhaupt bezahlt, natürlich, was nicht gerade häufig ist, aber trotzdem hat er es nicht schlecht mit mir gemeint. Und wenn ich nicht bei den Kanonieren geblieben wäre, hätte ich nicht Suni kennen gelernt.« Er wies mit dem schwieligen Daumen zu seiner indischen Frau, die mit den Frauen der anderen Soldaten die Abendmahlzeit kochte.
»Hast du dir nie Sorgen gemacht, dass man dich wieder gefangen nehmen könnte?«, fragte Lawford.
»Klar habe ich mir verdammte Sorgen gemacht. Die ganze verfluchte Zeit.« Hickson hielt das Futteral dicht vor sein rechtes Auge, um zu überprüfen, ob er ordentlich genäht hatte. »Mensch, Bill, ich will nicht an die Wand gestellt werden, und ein Dutzend Bastarde lässt mich in ihre Musketenmündungen starren. Ich will in Sunis Bett sterben.« Er grinste. »Du stellst die blödesten Fragen, Bill, aber was kann man schon von einem verdammten Schreiberling erwarten? All dieses Lesen und Schreiben, Kamerad, ist verdammt schädlich für einen.«
Er hatte den Kopf geschüttelt, als könne er nichts Vernünftiges von Lawford erwarten. Wie alle von Gudins Soldaten
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