Sharpes Trafalgar
paddelte dem Schiff aus dem Weg und starrte dann offenen Mundes zu der großen schwarzweißen Wand empor, die an ihm vorbeizog. Der Tempel verblasste jetzt in der Abendsonne, aber Sharpe sah den dunklen Umriss des Turms und empfand so etwas wie Abschiedsschmerz. Er hatte Indien gemocht, es als Spielplatz für Krieger, Prinzen, Schufte und Abenteurer kennen gelernt. Er hatte hier Wohlstand gefunden, war hier zum Offizier geworden, hatte in den Hügeln und auf den alten Brustwehren seiner Festungen gekämpft. Er verließ dort Freunde und Geliebte und mehr als einen Feind in seinem Grab. Aber wofür? Für Britannien, wo niemand auf ihn wartete, keine Feinde von den Hügeln ritten und keine Tyrannen hinter Festungswällen lauerten?
Einer der wohlhabenden Passagiere kam mit einer Frau am Arm die steile Treppe vom Achterdeck herab. Wie die meisten Passagiere der Calliope war er ein Zivilist und elegant gekleidet mit dunkelgrünem Gehrock, weißer Hose und einem altmodischen Dreispitz. Die Frau an seinem Arm war pummelig, blond und in hauchdünnem Weiß gekleidet. Die beiden sprachen miteinander in einer Sprache, die Sharpe nicht kannte. Deutsch, Holländisch? Schwedisch? Die Frau lachte. Alles, was das ausländische Paar sah, angefangen von den Käfigen mit den Hühnern bis zum ersten seekranken Passagier an der Reling, schien sie zu amüsieren. Der Mann erklärte seiner Gefährtin das Schiff. »Bumm!«, stieß er hervor und zeigte auf eines der Geschütze. Dann wankte er, als das Schiff unter einer Windböe schlingerte. Die Frau lachte gespielt alarmiert auf und klammerte sich an den Ellbogen des Mannes.
»Sie wissen, wer das ist?« Es war Braithwaite, Lord William Hales Sekretär, der unbemerkt an Sharpes Seite getreten war.
»Nein«, sagte Sharpe brüsk. Er hatte instinktiv eine Abneigung gegen alles, was mit Lord William in Zusammenhang stand.
»Das ist der Baron von Dornberg«, sagte Braithwaite, als erwarte er, dass Sharpe beeindruckt war. Der Sekretär beobachtete, wie der Baron seiner Dame auf das Vordeck half, wo ein anderer Windstoß drohte, ihr den breitkrempigen Hut vom Kopf zu fegen.
»Nie von ihm gehört«, sagte Sharpe mürrisch.
»Er ist ein Nabob.« Braithwaite sprach das Wort ehrfürchtig aus, meinte damit, dass der Baron in Indien sagenhaft reich geworden war und jetzt seinen Wohlstand mit nach Europa nahm. Solch eine Karriere war ein Glücksspiel. Man starb entweder in Indien oder wurde reich. Die meisten starben.
»Führen Sie Güter mit sich?«, erkundigte sich Braithwaite.
»Güter?«, fragte Sharpe und fragte sich, warum sich Braithwaite so bemühte, freundlich zu ihm zu sein.
»Zum Verkaufen«, sagte Braithwaite ungeduldig, als sei Sharpe absichtlich begriffsstutzig. »Ich habe Pfauenfedern«, fuhr er fort. »Fünf Kisten voll. Die Federn erzielen in London einen Wahnsinnspreis. Hutmacher kaufen sie. Ich bin übrigens Malachi Braithwaite.« Er streckte Sharpe die Hand hin. »Lord Williams Privatsekretär.«
Sharpe schüttelte widerwillig die dargebotene Hand.
»Ich habe diesen Brief nicht abgeschickt«, sagte Braithwaite und lächelte bedeutungsvoll. »Ich habe es ihm bestätigt, aber nicht getan.« Braithwaite neigte sich näher. Er war ein wenig größer als Sharpe, jedoch viel dünner und hatte ein schwermütiges Gesicht mit unruhigen Augen, deren Blicke nie lange auf Sharpe ruhten, bevor sie zur Seite glitten, als erwarte er, jeden Augenblick angegriffen zu werden. »Seine Lordschaft wird nur annehmen, dass Ihr Colonel den Brief nie erhalten hat.«
»Warum haben Sie ihn nicht abgeschickt?«, fragte Sharpe.
Braithwaite wirkte gekränkt durch Sharpes schroffen Tonfall. »Wir werden Reisegefährten sein«, erklärte er ernst. »Für wie lange? Drei, vier Monate? Und ich reise nicht im Achterschiff wie seine Lordschaft, sondern muss im Zwischendeck schlafen, und obendrein noch im unteren! Nicht mal im oberen!« Es war ihm anzusehen, dass er diese Demütigung kaum ertragen konnte. Der Sekretär war wie ein Gentleman gekleidet, mit steifem Kragen und kunstvoll gebundener Krawatte, doch das Tuch seiner schwarzen Jacke war abgetragen, die Manschetten waren abgescheuert und sein Hemdkragen war verschlissen. »Warum sollte ich mir unnötig Feinde machen, Mister Sharpe?«, fragte Braithwaite. »Eine Hand wäscht die andere, und vielleicht könnten Sie mir auch einen Gefallen tun.«
»Zum Beispiel?«
Braithwaite zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, was alles passieren kann«, sagte er
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