Sharpes Trafalgar
die Überlebenden ihre großen Geschütze bemannten.
Sharpe stieg aufs Hauptdeck und von dort auf den Großmars, denn nur von dort konnte er über die dichte Rauchwand sehen, wohin die Schüsse gingen. Einige Kanonenkugeln schienen fast eine Meile zu fliegen, bevor sie in die See klatschten, andere ließen das Wasser hundert Yards vom Schiff entfernt aufgischten. Wie der Leutnant gesagt hatte, ließ Chase seine Männer nicht üben, um sie zu Scharfschützen auszubilden, sondern um schnell zu sein. Da waren Kanoniere an Bord, die damit prahlten, dass sie eine Kugel auf ein fliegendes Ziel in einer Distanz von einer halben Meile schießen konnten, doch Chase sah das Geheimnis der Schlacht darin, nahe an den Feind heranzukommen und einen Hagel von Schüssen loszulassen. »Es braucht nicht gezielt zu werden«, hatte er Sharpe gesagt. »Ich benutze das Schiff, um mit den Geschützen zu zielen. Ich lege die Geschütze längsseits des Feindes und lasse sie die Bastarde massakrieren. Nichts geht über Schnelligkeit, Sharpe. Schnelligkeit gewinnt Gefechte.«
Das ist genauso beim Musketenschießen, dachte Sharpe. An Land stießen die Armeen aufeinander, und meistens war die Seite, die am schnellsten mit ihren Musketen schoss, der Gewinner. Die Männer zielten nicht mit den Musketen, denn die schossen ungenau. Sie legten ihre Musketen an und feuerten, sodass ihre Kugel nur eine in einem Hagel von Kugeln war. Mit genügend Kugeln den Feind schwächen, das war die Devise. Und so war es auch auf See. Bring zwei Schiffe nahe aneinander, und dasjenige, das am schnellsten schießt, wird gewinnen. Und so trieb Chase seine Kanoniere an, lobte die Schnellsten und machte die Bummler zur Sau, und den ganzen Morgen erbebte die See rings um das Schiff beim Donnern der Geschütze. Eine lange Spur von zerfaserndem Pulverrauch lag hinter dem Schiff, ein Anzeichen darauf, dass es - wenn auch quälend langsam - vorangekommen war.
Sharpe hatte sein Fernrohr auf den Mast mitgenommen und richtete es jetzt nach Osten, in der Hoffnung, Land zu sehen, aber alles, was er entdecken konnte, war ein dunkler Schatten unter der Wolkendecke. Er richtete das Fernrohr nach unten und sah Malachi Braithwaite auf dem Achterdeck auf und ab gehen und jedes Mal beim Krachen eines Geschützes zusammenzucken.
Was sollte er wegen des Problems Braithwaite unternehmen? Eigentlich wusste er das genau, doch wie sollte er es auf einem Schiff erledigen, auf dem sich fast siebenhundert Leute befanden? Er schob das Fernrohr zusammen und steckte es in das Futteral. Dann kletterte er zum ersten Mal am Großmast von der Marssaling zur Bramsaling hinauf, wo er sich unter dem Bramsegel niederließ. Noch ein anderes Segel erhob sich darüber in den Himmel, jedoch nicht so hoch, dass man nicht hinaufklettern konnte, denn da war ein Ausguck, der Tabak kaute und westwärts spähte. Das Deck sah von dort oben winzig aus, doch die Luft war frisch, und der ständige Geruch des Schiffes und der nach verfaulten Eiern riechende Gestank des Pulverrauchs war nicht wahrzunehmen.
Der hohe Mast erzitterte, als zwei Geschütze gleichzeitig feuerten. Ein Windhauch blies den Rauch fort, und Sharpe sah, dass sich die See um den Einschlag der Kugeln kräuselte.
»Segel!«, brüllte der Ausguck über Sharpe aufs Deck hinab. Sein Schrei ertönte so plötzlich und laut, dass Sharpe zusammenzuckte. »Segel querab backbord!«
Sharpe musste überlegen, welche Seite des Schiffs Backbord und welche Steuerbord war, doch er erinnerte sich, zog sein Fernrohr aus und richtete es nach Westen. Er konnte nur eine verschwommene Linie sehen, wo sich die See mit dem Himmel traf.
»Was sehen Sie?«, rief Haskell, der Erste Leutnant, durch ein Sprachrohr.
»Bram- und Royalsegel!«, brüllte der Mann. »Gleicher Kurs wie wir, Sir!«
Das Geschützfeuer verstummte, denn Chase hatte jetzt andere Sorgen. Die Stückpforten wurden geschlossen, die großen Geschütze sicher verzurrt, und ein halbes Dutzend Männer eilte in die Takelage hinauf, um zusätzlich zu dem Ausguck Ausschau zu halten. Sharpe konnte auch mithilfe des Fernrohrs immer noch nichts anderes sehen als den westlichen Horizont. Er war stolz auf sein scharfes Sehvermögen, doch auf See braucht man einen anderen Weitblick, um die Feinde zu entdecken, als an Land. Er schwenkte das Fernrohr nach links und rechts, fand immer noch kein fremdes Schiff und entdeckte dann einen winzigen, verschwommenen weißen Fleck an der Kimm. Er verlor ihn wieder, richtete
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