Sharpes Zorn (German Edition)
deshalb ritten die Reichen entweder, oder sie ließen sich in Sänften tragen oder gingen gar zu Fuß.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und die Stadt schlief. Die wenigen Leute, die Sharpe sah, waren vermutlich entweder gar nicht zu Bett gegangen, oder aber es handelte sich um Diener, die Höfe fegten oder Feuerholz herbeischafften. Eine Katze schmiegte sich an Sharpes Bein, und er bückte sich, um sie zu streicheln. Dann ging er eine weitere Gasse hinunter, an deren Ende er gegenüber einer Kirche schließlich fand, was er suchte. Auf den Stufen schlief ein Bettler. Sharpe weckte den Mann und gab ihm eine ganze Guinea sowie Plummers Mantel und Hut. Als Gegenleistung erhielt er den Mantel und den breitkrempigen Hut des Bettlers. Beides war völlig verdreckt.
Sharpe ging in Richtung des schwachen Lichts der Morgendämmerung, das er nur mit Mühe im Labyrinth der Häuser erkennen konnte, und schließlich erreichte er eine der Stadtmauern. Er stieg hinauf und ging den Wehrgang entlang, vorbei an einer Kanone zwischen den Zinnen. Lichtschimmer verriet, wo die Franzosen jenseits der Bucht ihre Mörserstellungen hatten. Eine Kompanie spanischer Soldaten war auf der Mauer postiert, doch die Hälfte davon schnarchte friedlich vor sich hin. Hunde suchten am Fuß der Mauer nach Essbarem.
Nicht nur die Stadt schien zu schlafen, sondern die ganze Welt, doch dann riss ein gewaltiger Lichtblitz den Horizont im Osten entzwei. Das Licht verbreitete sich wie eine Scheibe, weiß und plötzlich, und die Silhouetten einiger Schiffe an der Mole waren zu erkennen. Dann verblasste das Licht wieder. Rauch stieg über einer französischen Festung auf, und dann kam der Lärm. Donner grollte über der Bucht und riss die Wachen aus dem Schlaf, als das Geschoss eine Viertelmeile vor Sharpe einschlug. Kurz herrschte Stille, dann explodierte das Geschoss. Die Granate war in einem kleinen Orangenhain eingeschlagen, und als Sharpe die Stelle erreichte, roch er den Pulverdampf. Er trat einen Splitter der Granatenhülle beiseite, sprang von der Mauer ins verbrannte Gras und bog in eine dunkle Straße. Die Häuserwände hier waren schmutzigweiß.
Sharpe hatte sich verirrt, aber er war am Nordende der Stadt, und da wollte er auch sein, und indem er eine schmale Straße nach der anderen erkundete, fand er schließlich die Kirche mit dem rot bemalten Kreuz an der Außenwand. Lord Pumphrey hatte ihm erzählt, das Kreuz sei aus Venezuela hierhergebracht worden, und die Menschen glaubten, am Fest des heiligen Vincente verwandele sich die rote Farbe in Blut. Sharpe fragte sich, wann das wohl war. Er hätte das gern gesehen.
Sharpe hockte sich auf die unterste Treppenstufe des Kircheneingangs. Der breite Hut verbarg sein Gesicht. Die Straße war hier vier Schritte breit, und fast unmittelbar ihm gegenüber befand sich ein vierstöckiges Haus, in dessen weiße Fassade das Relief einer Jakobsmuschel eingearbeitet war. Eine Gasse führte an dem Haus vorbei, das einen reich verzierten Eingang hatte, flankiert von zwei Fenstern. Die innen liegenden Fensterläden waren geschlossen und das Glas davor dunkel. In den oberen Stockwerken gab es je drei Fenster, jedes mit einem schmalen Balkon. Das, so hatte Lord Pumphrey Sharpe erklärt, war die Druckerei des El Correo de Cádiz. »Das Haus gehört einem Mann mit Namen Núñez. Er ist auch der Besitzer der Zeitung. Er lebt über der Druckerei.«
Nichts rührte sich in Núñez’ Haus. Sharpe setzte sich auf die Kirchenstufen und stellte eine Holzschüssel neben sich, die er aus der Botschaftsküche mitgenommen hatte. Er legte eine Hand voll Münzen in die Schüssel, denn so regte man die Großzügigkeit der Menschen an. Das wusste er noch von früher. Sharpe dachte an die Bettler seiner Kindheit zurück. Da war der Blinde Michael, der Adleraugen hatte, und die Zerlumpte Kate, die sich für einen Penny die Stunde Babys lieh und gut gekleideten Damen an The Strand am Schal zupfte. Mit einer Hutnadel hatte sie die Babys immer wieder zum Weinen gebracht, und an einem guten Tag hatte sie manchmal zwei, drei Pfund gemacht, die sie abends hatte versaufen können. Und da war auch noch der Stinkende Moses gewesen, der behauptete, ein Pfaffe gewesen zu sein, bevor er im Schuldturm gelandet war. Er hatte den Leuten für einen Schilling die Zukunft vorhergesagt. »Erzähl ihnen immer, dass sie Glück in der Liebe haben werden, Junge«, hatte er Sharpe geraten, »denn sie haben lieber Glück im Bett als im Himmel.«
Es
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