Sheila Levine ist tot und lebt in New York (German Edition)
aber ich muss ihn sprechen. Es ist wichtig.«
»Mein anderes Telefon klingelt, bitte warten Sie.«
(Meine Mutter ist auf dem Weg in die Stadt, und ich hänge in der Warteschleife. Apropos Warteschleife, im Himmel wird man durchgewinkt, nur in der Hölle gibt es eine Art Warteschleife, das Fegefeuer.)
»Hallo?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Können Sie den Herrn beschreiben?«
»Er hatte graues Haar, einen leicht grauen Teint und graue Augen, soweit ich mich erinnere.« (und graue Socken und graue Schuhe, Hals-Nase-Ohren sind auch grau.)
»Ich verbinde Sie mit Mr. Henry Rossman.« (Bitte, lieber Gott, erhör mich. Jesus, wenn das der richtige Mann ist, konvertier ich.)
»Hallo?«
»Hallo, ich bin Sheila Levine. Ich weiß nicht genau, ob ich mit Ihnen gesprochen habe, jedenfalls war ich vor ein paar Wochen bei Ihnen, um eine Grabstelle zu kaufen. Waren Sie das? Vielleicht erinnern Sie sich, ich habe zwei Grabstellen gekauft, fünfundsechzig A und B, soviel ich weiß. Ich bin die Frau ohne Mann.«
»Richtig, ich erinnere mich.« (Gott sei Dank. War nicht so ernst gemeint mit dem Konvertieren, lieber Jesus.)
»Gott sei Dank.«
»Wie geht es Ihnen, Miss Levine?« (Blödmann, ich war doch die Frau mit der tödlichen Krankheit! Wie soll es mir schon gehen ein paar Monate vor meinem Tod?)
»Bestens.«
»Gut.« (Er meinte aber nicht »gut«, er meinte »gar nicht gut«. Ich bin sicher, er hatte Angst, ich würde anrufen, weil es mir besser ging und ich vielleicht beabsichtigte, die Fünfundsechzig A und B wieder abzustoßen.
»Ich rufe an, weil ich heute zu Ihnen rausfahre und Sie wahrscheinlich auch sehen werde. Ich möchte aber auf keinen Fall, dass Sie mich erkennen.«
»Was?«
»Die Tante meiner Mutter ist gestorben und wird aufRossman’s beerdigt. Ich komme heute mit meiner Mutter zu Ihnen raus und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie so tun könnten, als würden Sie mich nicht kennen, meine Mutter weiß nämlich nichts von meiner tödlichen Krankheit, und sie weiß auch nicht, dass ich bald selbst bei Ihnen ruhen werde. Wenn Sie mich also heute Nachmittag bitte, bitte nicht erkennen!«
»Warum erzählen Sie Ihrer Mutter nichts von Ihrer tödlichen Krankheit? Ich denke, sie könnte Ihnen helfen, Sheila.« (Bitte, großer grauer Mann, keine langen, fernmündlichen Vorträge.)
»Ich erzähl’s ihr schon noch, aber ich will den richtigen Augenblick abwarten.« (Das hast du gut gemacht, Girl!)
»Ich verstehe. Sie müssen das am besten wissen.« (Ich weiß gar nichts, aber es freut mich, dass Sie das denken.)
»Ja, ich hab alles gründlich durchdacht.«
»Na, dann bis später. Und keine Angst. Ich tu so, als hätte ich Sie noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Gut. Und sagen Sie bitte Mrs. Goldmann, sie soll mich auch nicht erkennen.«
»Mrs. Goldman ist mit einer trauernden Familie unterwegs.«
»Gut … na ja, ich meine das nicht so.«
»Miss Levine, ich hab Sie nie gefragt, ob Sie eine Grabpflege wünschen.«
»Oh ja, gerne.« Die Kosten waren mir egal. Ich wollte vor allem nicht das Risiko eingehen, dass er sich’s anders überlegte und mich doch erkannte.
Ich traf mich mit meiner Mutter auf der Thirty-Eighth,weil die Thirty-Ninth eine Einbahnstraße ist und in die falsche Richtung geht. Das ist so ein New Yorker Ding. Man plant die Route besser ganz genau, denn ständig muss man sich vergewissern, ob die Straße auch in die richtige Richtung führt. Meine Mutter hielt an der Bordsteinkante, ich setzte mich hinters Steuer, und meine Mutter glitt auf den Beifahrersitz, als hätten wir es einstudiert. Eine Art perfekter Inszenierung. Die ersten zehn Minuten war sie auffallend still. Dann:
»Ach ja, für jeden kommt einmal der Tag. Tante Goldie hatte ein sehr erfülltes Leben. Und ihr Tod war eine Gnade. So würde ich auch gerne gehen – ganz plötzlich durch einen Herzinfarkt. Wirklich eine Gnade. Hoffentlich sterbe ich vor deinem Vater. Das ist mein innigster Wunsch – ein plötzlicher Herzinfarkt, und den vor deinem Vater. Ich möchte keine Witwe sein, das ist furchtbar. Schau dir Frances Lehman an. Sie ist nur noch deprimiert, seit ihr Herman das Zeitliche gesegnet hat. Frances hat drei Töchter, alle drei sind verheiratet und leben ihr eigenes Leben. Für Frances bleibt ihnen kaum Zeit. Letztes Jahr hat sie eine Weltreise gemacht. Was ist das für ein Leben! Du darfst nicht zulassen, Sheila, dass man mich ins Altersheim steckt. Schau dir Louise Schnitzers Mutter an. Wie ich hörte, wurde sie
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