Sherlock Holmes - Das Tal der Furcht
Kette hielt. Es gab Straßenköter, die die Kleinarbeit erledigten. Aber eines Tages würde er diesen Kampfhund von der Kette lassen. Ein paar Mitgliedern der Loge, Ted Baldwin unter ihnen, gefiel der steile Aufstieg des Fremden nicht, und sie haßten ihn deswegen, aber sie gingen ihm aus dem Weg, denn er war ebenso rasch bereit loszuschlagen wie zu lachen.
Aber wenn er auch bei seinen Kameraden an Beliebtheit gewann, gab es doch andere Menschen — und
sogar solche, die ihm mehr am Herzen lagen —, bei denen er sie verlor. Ettie Shafters Vater wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und wollte ihm auch nicht erlauben, das Haus zu betreten. Ettie selbst war zu sehr verliebt in ihn, um ihn ganz und gar aufzugeben, und doch warnte ihr eigener Verstand sie vor der Ehe mit einem Mann, den man für einen Verbrecher hielt.Eines Morgens hatte sie sich nach einer
schlaflosen Nacht entschlossen, ihn zu besuchen, möglicherweise das letzte Mal, um noch einmal einen ernsthaften Versuch zu machen, ihn den schlechten Einflüssen zu entziehen, unter die er immer wieder zu geraten schien. Sie ging zu seiner Wohnung, worum er sie oft gebeten hatte, und begab sich in das Zimmer, das er als Wohnzimmer benutzte. Er saß mit dem Rücken zu ihr am Tisch und hatte einen Brief vor sich liegen. Plötzlich packte sie die mädchenhafte Lust, ihn zu necken. Sie war schließlich erst neunzehn. Er hatte sie nicht hereinkommen hören, und so ging sie auf Zehenspitzen und legte leicht ihre Hand auf seine Schulter.
Wenn sie ihn hatte erschrecken wollen, so war ihr ein voller Erfolg beschieden, aber nur um den Preis des eigenen Erschrek-kens. Mit einem Tigersprung hatte er sich herumgeschwungen, und seine rechte Hand griff nach ihrem Hals. Im gleichen Augenblick knüllte er mit der anderen Hand das Papier zusammen, das vor ihm gelegen hatte. Einen Augenblick starrte er sie an. Dann traten Staunen und Freude an die Stelle des wilden Zornes, der seine Gesichtszüge eben noch verzerrt hatte — eine Wildheit, vor der sie entsetzt zurückzuckte, wie vor etwas, das sie in ihrem behüteten Leben noch nie erlebt hatte.
»Du bist es!« sagte er und fuhr sich über die Stirn. »Du kommst mich besuchen, mein Herz, und mir fällt nichts besseres ein, als dich erwürgen zu wollen! Komm, mein Liebling«, under breitete die Arme aus,
»laß es mich wieder gutmachen.«
Aber sie hatte sich noch nicht wieder erholt von dem plötzlichen Ausdruck schuldiger Angst, den sie im Gesicht des Mannes gelesen hatte. All ihre frauliche Eingebung sagte ihr, daß das nicht nur das
Zusammenfahren eines erschrockenen Mannes gewesen war. Schuld war es — Schuld und Angst.
»Was ist in dich gefahren, Jack«, rief sie. »Warum hattest du solche Angst vor mir? O Jack, wenn dein Gewissen rein wäre, hättest du mich nicht so wie eben ansehen brauchen!«
»Sicherlich habe ich an ganz andere Dinge gedacht, und als du so lautlos auf deinen Feenfüßen
hereinkamst...«
»Nein, nein, es war mehr als das, Jack.« Ein plötzlicher Argwohn ergriff sie. »Bitte, laß mich den Brief lesen.«
»Nein, Ettie, das kann ich nicht.«
Ihr Verdacht wurde zur Gewißheit. »Du schreibst einer anderen Frau«, rief sie. »Ich weiß es! Warum solltest du ihn sonst vor mir verstecken? Ist es eine Frau, der du gerade schriebst? Wie soll ich wissen, daß du kein verheirateter Mann bist - du, ein Fremder, den keiner kennt?«
»Ich bin nicht verheiratet, Ettie. Sieh mich an. Ich schwöre es dir! Du bist die einzige Frau für mich auf dieser Erde. Ich schwöre es dir beim Kreuze unseres Herrn!«
Er war bleich und sprach mit solch leidenschaftlichem Ernst, daß sie nicht anders konnte, als ihm zu glauben.
»Gut denn«, rief sie, »warum willst du mir dann den Brief nicht zeigen?«
»Ich will es dir sagen, Acushla«, sagte er. »Ich habe einen Eid geschworen, ihn niemandem zu zeigen, und so wie ich mein Wort dir gegenüber nicht brechen würde, so halte ich auch anderen gegenüber mein Versprechen. Es ist ein Geschäftsbrief und betrifft die Loge, Angelegenheiten, die ich sogar vor dir geheim halten muß. Aber wenn ich vorhin erschrak, als deine Hand mich berührte - stell dir vor, es hätte ja auch die Hand eines Detektivs sein können!«
Sie fühlte, daß er die Wahrheit sagte. Er nahm sie in seine Arme und küßte Angst und Zweifel fort.
»Setz dich her zu mir. Es ist ein unwürdiger Thron für eine solche Königin, aber es ist der beste, den dein armer Liebhaber finden kann. Eines Tages
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