Sherlock Holmes - Der Rote Kreis
geschrieben hatte, versiegelte sie mit seinem Manschettenknopf und schickte sie durch den Diener Jose hinüber. Wie sie ihn umgebracht haben, weiß ich nicht, höchstens, daß es Murillo gewesen sein muß, der ihn niedergeschlagen hat, denn Lopez war als mein Wächter zurückgeblieben. Ich glaube, er muß hinter dem Ginstergebüsch, das den Weg umsäumt, gelauert haben. Zuerst wollten sie ihn ins Haus hereinkommen lassen und ihn als entdeckten Einbrecher umbringen, aber dann meinten sie, daß die gerichtliche Untersuchung auch ihre eigene Identität herausbringen könnte. Wenn in der Öffentlichkeit bekannt würde, wer sie wirklich sind, wären den nächsten Anschlägen Tür und Tor geöffnet. Sie hofften, daß sie mit Garcias Tod die anderen von jeder weiteren Verfolgung abschrecken würden.
Alles wäre ja für sie in Ordnung gegangen, wenn ich nicht Zeuge ihrer Untat gewesen wäre.
Mein Leben hing in dieser Zeit öfter am seidenen Faden. Ich war in meinem Zimmer eingesperrt, wurde durch die fürchterlichsten Drohungen terroris iert und hatte manche Grausamkeit zu erleiden, alles um mich klein zu kriegen. Hier sehen Sie den Einstich in meiner Schulter, die blauen Flecken an den Armen. Einmal versuchte ich, aus dem Fenster um Hilfe zu rufen.
Danach haben sie mir einen Knebel in den Mund gesteckt. Fünf Tage lang dauerte diese grau-same Gefangenschaft, während der ich kaum etwas zu essen bekam. Heute mittag wurde mir ein gutes Essen gebracht. Aber nach den ersten Bissen merkte ich, daß sie eine Droge hinein-getan hatten. Wie in einer Art Traum erinnere ich mich daran, daß ich in eine Kutsche gebracht wurde, halb geführt und halb getragen, und genau so kam ich in den Zug. Erst dann, als die Räder beinahe schon zu rollen anfingen, ging mir auf, daß ich meine Freiheit in die eigenen Hände nehmen mußte. Ich sprang hinaus, sie versuchten, mich wieder hineinzuzerren. Ich hätte meinen Ausbruch wohl nicht geschafft, wenn nicht dieser gute Mann mir geholfen hätte.
Und nun bin ich Gott sei Dank für immer aus ihren Klauen gerettet.«
Wir hatten diesem erschütternden Bericht sehr aufmerksam gelauscht. Holmes brach endlich das Schweigen.
»Unsere Schwierigkeiten sind vorüber«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Die Polizeiarbeit ist beendet, aber die Arbeit des Gesetzes beginnt erst noch. «
»Richtig«, sagte ich. »Ein schlauer Verteidiger wird es als Selbstverteidigung hinstellen. Und wenn er hundert Verbrechen in der Vergangenheit begangen hat, so wird doch nur dieses eine verhandelt.
»Kommen Sie, Freunde«, sagte Baynes munter, »ein bißchen besser denke ich doch von der englischen Rechtsprechung. Selbstverteidigung ist eine Sache. Einem Menschen kaltblütig aufzulauern, mit dem Vorsatz, ihn umzubringen, ist eine andere, ganz egal, wie gefährlich ihm der andere hätte werden können. Nein, nein, ich bin sicher, daß wir die Bewohner von High Gable bei der nächsten Guildford Assizes sehen werden!«
Das Schicksal wollte es jedoch so, daß noch ein bißchen Zeit verging, bis der Tiger von San Pedro sein Ende fand. Gerissen und frech schüttelten er und sein Begleiter ihre Verfolger ab, indem sie ein Gästehaus in Edmonton Street betraten und dies durch die Hintertür in den Cur-zon Square verließen. Von dem Tage an wurden sie in England nicht mehr gesehen. Aber sechs Monate später wurde der Marquess von Montalva und Signor Rulli, sein Sekretär, beide in ihren Zimmern im Hotel Escurial in Madrid, ermordet aufgefunden. Das Verbrechen wurde den Nihilisten angekreidet, aber die Verbrecher selber niemals gefunden.
Inspektor Baynes besuchte uns in der Baker Street und brachte uns die gedruckte Beschreibung des dunklen Gesichtes des Sekretärs mit - zusammen mit den überwältigenden Zügen, den magnetischen schwarzen Augen und den buschigen Augenbrauen seines Herren. Wir durften jetzt glauben, daß die Gerechtigkeit sie, wenn auch verspätet, eingeholt hatte.
»Mein lieber Watson, das war ein recht chaotischer Fall«, sagte Holmes am Abend bei einer Feierabendpfeife. »Es wird wohl nicht möglich sein, dies in der kompakten Form zu veröffentlichen, die Ihrem Herzen so teuer ist. Es spielt auf zwei Kontinenten, hat zwei verschiedene rätselhafte Gruppen zum Inhalt und wird weiterhin verkompliziert durch die Anwesenheit unseres höchst respektablen Freundes Scott Eccles. Daß dieser in die Geschichte hineinspielt, zeigt mir, daß Garcia ein sorgfä ltiger Planer war mit einem gutentwickelten Sinn für
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