Sherlock Holmes - Der Vampir von Sussex
brauche ich wohl nicht zu erzählen, nicht wahr, Jimmy? Es schien, daß am gestrigen Tag, als die Gefechtshandlungen immer näher rückten, die armen Kreaturen evakuiert worden waren. Als die Briten herankamen, waren sie von ihrem betreuenden Arzt wieder zurückgebracht worden. Dieser Arzt versicherte mir, daß er zwar glaube, selber gegen die Krankheit immun zu sein, aber er würde doch niemals das riskiert haben, was ich gemacht hatte. Er brachte mich in ein privates Zimmer und versorgte mich sehr freundlich. Innerhalb einer Woche war ich wieder soweit hergestellt, daß ich in das allgemeine Krankenhaus von Pretoria überwiesen werden konnte.
Da hast du meine Tragödie. Ich hoffte gegen alle Hoffnung. Aber als ich heimkam, da waren diese schrecklichen Zeichen auf meinem Gesicht und sagten deutlich, daß ich nicht davonge-kommen war. Was sollte ich tun? Hier stand dieses einsame Häuschen, in dem ich leben konnte. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit stellte sich Mr. Kent, ein Arzt, zur Verfü-
gung, bei mir zu wohnen. das alles erschien einfach genug. Die Alternative war eine schreckliche Isolation fürs Leben, zusammen mit Fremden und keine Hoffnung auf Besserung. Aber absolute Verschwiegenheit war notwendig, oder es hätte selbst in diesem stillen Landstrich einen Aufschrei der Leute gegeben. Dann wäre ich meinem schrecklichen Schicksal vollends ausgeliefert gewesen. Selbst du, Jimmy, selbst du, solltest nichts wissen. Wieso Vater nach-gab, kann ich mir nicht erklären.«
Colonel Emsworth zeigte auf mich.
»Der Herr hat mich gezwungen.« Er faltete das Stückchen Papier auseinander, auf das ich das Wort >Lepra< geschrieben hatte. »Mir schien, wenn er schon soviel wußte, dann war es für unsere Sicherheit besser, wenn er alles erfuhr.«
»Und der Meinung bin ich auch«, sagte ich. »Wer weiß, ob nicht Gutes draus wird? Soviel ich weiß, hat nur Mr. Kent den Kranken gesehen? Darf ich Sie fragen, Sir, ob Sie ein Spezialwis-sen in diesen Krankheiten haben, die tropischer oder semitropischer Natur sind?«
»Ich habe das ordentliche Wissen eines gebildeten Mediziners«, antwortete er etwas steif.
»Sir, ich bezweifle in keiner Weise, daß sie völlig kompetent sind. Aber Sie werden sicherlich mit mir übereinstimmen, daß in einem solchen Fall ruhig ein zweiter Arzt hinzugezogen werden sollte. Sie haben das vermieden, weil Sie fürchteten, daß das zu der gefürchteten Isolation Ihres Patienten führen würde. «
»So ist es«, sagte Colonel Emsworth.
»Ich habe diese Situation vorausgesehen«, erklärte ich, »und ich habe deshalb einen Freund mitgebracht, auf dessen Diskretion man sich unbedingt verlassen kann. Ich habe ihm einmal einen beruflichen Gefallen getan, und er ist bereit, etwas für mich aus Freundschaft zu tun.
Sein Name ist Sir James Saunders.«
Die Aussicht, mit Lord Roberts persönlich sprechen zu dürfen, hätte bei einem einfachen Feldwebel nicht mehr Überraschung und Verwunderung auslösen können, als wie sie sich nun im Gesicht von Mr. Kent spiegelte.
»Es wird mir gewiß eine Ehre sein«, murmelte er.
»Dann werde ich Sir James bitten, hierher zu kommen. Im Augenblick befindet er sich in der Kutsche vor der Tür. Inzwischen sollten wir uns in Ihr Arbeitszimmer begeben, Colonel, wo ich Ihnen gerne die nötigen Erklärungen geben möchte.«
Und hier fehlt mir mein Watson. Mit seinen cleveren Fragen und seinen verwunderten Ausrufen konnte er meine schlichte Kunst, die aus nichts weiter besteht, als einer normalen, syste-matischen Beobachtung meiner Umwelt, ins Wunderbare emporheben. Wenn ich meine eigene Geschichte erzähle, habe ich eine solche Hilfe nicht. Ich werde darum den Gang meiner Gedanken wiedergeben, wie ich ihn meiner kleinen Audienz, zu der auch Godfreys Mutter gehörte, im Arbeitszimmer des Colonel schilderte.
»Mein Nachdenken«, sagte ich, »beginnt immer mit der Annahme, daß das, was übrigbleibt, wenn sie alles andere, was unmöglich ist, ausgeschlossen haben, so unfaßbar es einem auch erscheint, die Wahrheit sein muß. Es kann natürlich sein, daß mehrere Erklärungen möglich sind. In diesem Fall macht man einen Test nach dem anderen, bis sich die wahrscheinliche Lösung herausschält. Diese Prinzipien wollen wir jetzt auf diesen Fall anwenden. Als er mir zunächst vorgelegt wurde, schien er drei mögliche Lösungen zu enthalten, weshalb dieser junge Mann auf dem Grundstück seines Vaters eingesperrt sein sollte. Die Erklärung, daß er sich wegen eines
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