Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Haufen beisammen, nur der Rock fehlte. Stiefel, Socken, Hut, Uhr – alles fand sich vor, aber kein Merkmal von Gewalttat war daran zu erkennen, und auch sonstige Spuren von Mr Neville St. Clair fanden sich nicht. Allem Anschein nach musste er zum Fenster hinausbefördert worden sein, ein anderer Ausweg war nicht zu entdecken, und die verdächtigen Blutspuren am Gesims ließen wenig Hoffnung übrig, dass er sich durch Schwimmen gerettet haben könnte, denn die Flut stand zur Zeit der Gräueltat am höchsten. Und nun zu den Strolchen, die zunächst in die Sache verwickelt schienen. Der Malaie war ein äußerst übel beleumundeter Mensch. Da er aber nach Aussage der Mrs St. Clair wenige Sekunden nach ihres Mannes Erscheinen am Fenster am Fuß der Treppe gestanden hatte, konnte er kaum anders denn als bloße Nebenfigur bei dem Verbrechen angesehen werden. Seine Verteidigung beschränkte sich auf die Behauptung vollständiger Unwissenheit. Er verwahrte sich gegen jegliche Kenntnis von dem Tun und Lassen seines Mieters, Hugo Boones, und erklärte sich außerstande, irgendwelche Rechenschaft darüber zu geben, wie die Kleider des vermissten Herrn hierher gekommen wären.
So viel über den Wirt. Und nun zu dem unheimlichen Krüppel, der im zweiten Stock der Opiumhöhle wohnt und der sicher das letzte menschliche Wesen war, dessen Auge Neville St. Clair gesehen hat. Er heißt Hugo Boone, und jedermann, der häufig zur City kommt, kennt sein abschreckend hässliches Gesicht. Er ist gewerbsmäßiger Bettler und treibt dabei, um den polizeilichen Verordnungen nachzukommen, einen kleinen Handel mit Wachsstreichhölzern. Eine kurze Strecke die Threadneedle Street abwärts tritt links an der Mauer eine kleine Ecke hervor. Dort lässt sich der Kerl täglich mit gekreuzten Beinen und seinem kleinen Warenvorrat auf dem Schoß nieder, und sein Anblick ist so erbarmungswürdig, dass der reichste Wohltätigkeitsregen in seine fettige Mütze neben ihm auf dem Pflaster niederträufelt. Noch ehe ich ahnte, dass ich einmal von Berufs wegen dieses Burschen Bekanntschaft machen würde, hatte ich ihn schon oft beobachtet und war erstaunt über die große Ernte, die er in kürzester Frist einheimste. Seine Erscheinung ist nämlich derart auffällig, dass man ihn nicht unbeachtet lassen kann. Ein Busch rotgelben Haares, ein blasses Gesicht, verunziert durch eine entsetzliche Narbe, die im Verwachsen den einen Mundwinkel in die Höhe gezerrt hat, ein Bulldoggenkiefer und ein paar stechende dunkle Augen, die zu der Farbe des Haares in absonderlichem Kontrast stehen, dies alles zeichnet ihn vor der übrigen Menge der Bettler aus, und dies tut auch sein Witz; denn er hat stets eine schlagfertige Antwort auf jeden schlechten Scherz, den ein Vorübergehender mit ihm machen mag. Das ist also jener Mietsmann in der Opiumhöhle, jener Mann, der den vermissten Herrn, den wir suchten, zuletzt gesehen haben muss.«
»Aber ein Krüppel!«, warf ich ein. »Was vermochte der allein gegen einen Mann in vollster Körperkraft?«
»Ein Krüppel ist er wohl, sofern er zum Gehen einer Krücke bedarf, sonst aber scheint er kräftig und wohlgenährt zu sein. Gewiss wird Ihre ärztliche Erfahrung Sie lehren, Watson, dass die Schwäche des einen Gliedes oft durch eine umso größere Stärke des anderen ausgeglichen wird.«
»Bitte fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«
»Mrs St. Clair war beim Anblick der Blutflecken am Fenster ohnmächtig geworden, und ein Schutzmann hatte sie im Wagen nach Hause gebracht, zumal da auch ihre Gegenwart bei den weiteren Nachforschungen nutzlos war. Inspektor Barton, der den Fall zu leiten hatte, untersuchte alles aufs Genaueste, doch ohne irgendetwas zu finden, was die dunkle Sache hätte aufhellen können. Darin war der Fehler begangen worden, dass Boone nicht sofort verhaftet wurde, sondern noch einige Minuten sich überlassen blieb, während deren er sich mit seinem Freund, dem Malaien, verständigen konnte; doch machte man diesen Fehler sehr bald wieder gut, denn er wurde festgenommen und durchsucht, ohne dass sich jedoch irgendetwas Belastendes gegen ihn ergeben hätte. Allerdings befanden sich einige Blutflecken auf seinem rechten Hemdsärmel, doch wies er auf seinen Ringfinger hin, an dem unterhalb des Nagels eine Schnittwunde war, und sagte, das Blut komme daher, mit der Hinzufügung, er sei erst vor Kurzem am Fenster gewesen, und die dort bemerkten Blutspuren rührten ohne Zweifel von der gleichen Ursache her. Er verneinte
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