Sherlock Holmes - gesammelte Werke
abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›O mein Gott! Helene! Es war … Band! … getupfte Band …!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer grässlicher Krampfanfall ihr die Worte im Mund erstickte. Ich wollte eben unseren Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm, da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte diese bereits das Bewusstsein verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorf herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«
»Einen Augenblick!«, unterbrach sie Holmes. »Haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus bestimmten Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturms krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«
»War Ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel.«
»Woraus hervorgeht, dass sie Licht gemacht und sich umgeschaut hatte, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinem Zeugnis ging hervor, dass die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände untersuchte man sorgfältig, fand sie jedoch völlig unversehrt und fest, ebenso wie den Fußboden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«
»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«
»Ich bin der Meinung, dass meine Schwester lediglich infolge einer durch Schrecken verursachten Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in den Anlagen am Haus auf?«
»Jawohl. Es sind fast immer welche da.«
»So, so. Und was glauben Sie, dass Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«
»Das möchte ich manchmal lediglich für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner in den Anlagen, bezogen haben. Möglich, dass die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, ihr zu der auffallenden Bezeichnung Anlass gegeben haben.«
Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.
»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »bitte fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«
»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben war inzwischen einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat mir ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage die Ehre erwiesen, um meine Hand anzuhalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so soll unsere Verbindung noch in diesem Frühjahr stattfinden. Seit zwei Tagen hat man begonnen, Ausbesserungen an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses vorzunehmen, wobei die Wand an meinem Schlafzimmer durchbrochen wurde, sodass ich das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in deren Bett schlafen musste. Stellen Sie sich nun meinen grässlichen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht, während ich, gerade mit dem Gedanken an ihr schreckliches Geschick beschäftigt, wachend dalag, plötzlich das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang auf und steckte die Lampe an, vermochte jedoch nichts im Zimmer zu entdecken. Zu erregt, um wieder zu Bett zu gehen, kleidete ich mich
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