Sherlock Holmes - gesammelte Werke
ist lediglich eine unglückliche Verkettung von Umständen. Dass es sich dabei um eine Demütigung handelt, kann ich überhaupt nicht zugeben.«
»Sie sehen eben diese Dinge von einem anderen Standpunkt an.«
»Ich kann mich nicht überzeugen, dass irgendjemand eine Schuld trifft. Die junge Frau hätte im Grunde kaum anders handeln können. Ihr schroffes Vorgehen dabei ist freilich zu bedauern; aber sie stand ohne Mutter da und hatte somit keinen Menschen, der ihr in dieser kritischen Lage raten konnte.«
»Es war eine entwürdigende Behandlung, eine öffentliche Beschimpfung«, rief Lord St. Simon und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
»Sie müssen dem armen Mädchen, das sich in einer so überaus schwierigen Lage befand, etwas zugute halten.«
»Ich bin nicht in der Stimmung, irgendjemandem etwas zugute zu halten. Ich bin aufs Äußerste empört. Man hat mir schmählich mitgespielt.«
»Ich glaube, es hat geklingelt«, unterbrach ihn Holmes. »Jawohl, es lassen sich unten Schritte vernehmen. Da ich Sie nicht überreden kann, die Sache in milderem Licht zu sehen, Lord St. Simon, habe ich hier einen Anwalt bestellt, der es vielleicht besser zuwege bringt.« Damit öffnete er die Tür und ließ eine Dame und einen Herrn eintreten. »Lord St. Simon«, wandte er sich an diesen, »gestatten Sie mir, Ihnen Mr und Mrs Hay Moulton vorzustellen. Die Dame ist Ihnen wohl bereits bekannt.«
Beim Erscheinen der neuen Ankömmlinge war der Lord sofort von seinem Sitz aufgesprungen; mit zu Boden gesenktem Blick, die rechte Hand vorn in den Rock gesteckt, stand er da – ein Bild beleidigter Würde. Die junge Frau tat einen raschen Schritt auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen, aber er schaute nicht empor. Und wenn er fest bleiben wollte, war dies wohl auch das Beste, denn dem bittenden Ausdruck ihres Gesichts war nicht leicht zu widerstehen.
»Du zürnst mir, Robert?«, sagte sie. »Freilich, du hast wohl guten Grund dazu.«
»Nur keine Entschuldigung«, erwiderte der Angeredete bitter.
»Ich weiß wohl, ich habe wirklich unrecht an dir gehandelt; ich hätte dir’s sagen sollen, ehe ich davonging. Aber ich war ganz aus dem Häuschen; sobald ich meinen Frank wiedergesehen hatte, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich tat und sagte. Ich wundere mich nur, dass ich nicht gleich vor dem Altar ohnmächtig wurde und hinfiel.«
»Vielleicht wäre es Ihnen erwünscht, Mrs Moulton, wenn ich mit meinem Freund während dieser Erörterungen das Zimmer verließe?«, warf hier Holmes ein.
»Wenn ich meine Meinung äußern darf«, ließ sich jetzt der fremde Herr vernehmen, »so haben wir die Sache bisher schon mit allzu viel Heimlichkeit betrieben. Meinethalben könnte die ganze Welt erfahren, wie alles zugegangen ist.« Es war ein kleiner, geschmeidiger, sonnenverbrannter Mann, glatt rasiert, mit klugem Gesicht und lebhaftem Wesen.
»Dann will ich unsere Geschichte frischweg erzählen«, sagte die junge Frau. »Frank und ich trafen uns im Jahr 1884 in McQuires Camp am Felsengebirge, wo Papa eine Grube besaß. Wir verlobten uns miteinander; allein eines Tages stieß Papa auf eine reiche Ader in der Grube und gewann mächtig viel Gold, während der arme Frank aus seiner Grube immer weniger herausschlug und zu nichts kam. Je reicher Papa wurde, umso ärmer wurde Frank, zuletzt wollte Papa nichts mehr von unserer Verlobung hören und tat mich fort nach Frisco. Aber Frank wollte nicht von mir lassen; er folgte mir und traf ohne Papas Wissen mit mir zusammen. Hätten wir es ihm gesagt, so wäre er nur in Wut geraten, deshalb machten wir die Sache für uns allein ab. Frank erklärte, er wolle fortgehen und auch sein Glück machen; erst wenn er so viel habe wie Papa, werde er wiederkommen und seine Rechte an mich geltend machen – nicht früher. So versprach ich ihm denn, auf ihn zu warten in alle Ewigkeit und gab ihm mein Wort, keinen anderen zu heiraten, solange er am Leben sei. ›Warum sollten wir aber nicht frischweg heiraten?‹, meinte er, ›dann bist du mir sicher; meine Rechte als Ehemann mache ich erst geltend, wenn ich zurückkomme.‹ Wir kamen bald darüber ins Reine, und er hatte alles so hübsch eingefädelt, ein Geistlicher wartete schon, dass wir’s gleich auf der Stelle abmachten; Frank ging dann fort, sein Glück zu suchen, und ich kehrte zu Papa zurück.
»Das nächste, was ich von Frank hörte, war, dass er in Montana sei; sodann begab er sich nach Arizona, um sich dort umzusehen; und hierauf
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