Sherlock Holmes - gesammelte Werke
bekam ich Nachricht von ihm aus Neu-Mexiko. Eines Tages stand eine lange Geschichte in den Zeitungen, wie die Apachen ein Goldgräberdorf überfallen hätten, und dabei war mein Frank unter den Erschlagenen aufgeführt. Ich fiel um wie tot und war monatelang schwer krank; Papa meinte, ich habe eine zehrende Krankheit und brachte mich in Frisco von einem Arzt zum anderen. Ein Jahr oder noch länger hörte ich kein Wort mehr von Frank, sodass ich fest glaubte, er sei wirklich tot. Darauf kam Lord St. Simon nach Frisco, später reisten wir nach London, und die Heirat kam zustande. Papa war sehr froh darüber; aber ich fühlte stets, dass kein anderer Mann auf dieser Welt je den Platz in meinem Herzen einnehmen würde, der meinem armen Frank gehörte.
Trotzdem würde ich Lord St. Simon eine pflichtgetreue Gattin gewesen sein, falls ich seine Frau geworden wäre. Unsere Gefühle haben wir nicht in der Gewalt, wohl aber unsere Handlungen. Als ich mit ihm vor den Altar trat, war es mein fester Vorsatz, ihn glücklich zu machen. Aber Sie können sich denken, wie mir zumute war, als ich gerade beim Hintreten vor den Altar zufällig hinter mich schaute und Franks Augen aus der ersten Sitzreihe unmittelbar auf mich gerichtet sah. Ich meinte zuerst, es sei sein Geist, aber als ich wieder hinschaute, saß er noch immer da und blickte mich mit einem so eigentümlichen Ausdruck an, als wollte er fragen, ob mir seine Gegenwart erwünscht sei oder nicht. Ich wundere mich nur, dass ich nicht in Ohnmacht fiel. Alles drehte sich mit mir im Kreis, und die Worte des Geistlichen klangen mir im Ohr wie Bienensummen. Was sollte ich tun? Sollte ich die Trauung unterbrechen und einen Auftritt in der Kirche veranlassen? Ich blickte noch einmal nach ihm hin, und er schien meine Gedanken zu erraten, denn er legte die Finger an die Lippen, zum Zeichen, dass ich nichts sagen solle. Dann sah ich ihn etwas auf ein Stückchen Papier kritzeln – offenbar eine Notiz für mich. Beim Vorübergehen an seinem Platz ließ ich mein Bouquet vor ihm hinfallen, und als er es mir zurückgab, drückte er mir das Zettelchen in die Hand. Es enthielt nur mit ein paar Worten die Aufforderung, zu ihm zu kommen, sobald er mir ein Zeichen geben würde. Ich war natürlich keinen Augenblick mehr im Unklaren darüber, dass meine Pflichten in erster Linie jetzt ihm gehörten und beschloss deshalb, einfach seiner Leitung zu folgen.
Zu Hause sprach ich mit meiner Zofe, die ihn schon in Kalifornien gekannt hatte und ihm immer wohlgesinnt gewesen war. Ich hieß sie reinen Mund halten, ein paar Sachen einpacken und mir Hut und Mantel zurechtlegen. Ich weiß wohl, ich hätte mich mit Lord St. Simon verständigen sollen, aber das wäre vor seiner Mutter und all den vornehmen Leuten eine furchtbare Aufgabe gewesen. So entschloss ich mich, auf- und davonzugehen und die Erklärung auf später zu verschieben. Ich saß noch keine zehn Minuten bei Tisch, als ich Frank durch das Fenster auf der Straße drüben erblickte. Er nickte mir zu und schlug dann den Weg nach dem Park ein. Ich schlüpfte hinaus, zog meine Sachen an und ging ihm nach. Unterwegs trat eine Frauensperson zu mir heran, um mir irgendetwas über Lord St. Simon mitzuteilen – nach dem wenigen, was ich davon verstand, schien es mir, als habe auch er vor der Hochzeit schon eine kleine Heimlichkeit gehabt – aber ich machte, dass ich von ihr wegkam, und holte Frank bald ein. Darauf fuhren wir zusammen nach Gordon Square, wo er eine Wohnung genommen hatte, und nun war ich nach den langen Jahren des Harrens wirklich mit meinem Gatten vereint.
Frank war bei den Apachen gefangen gewesen, war aber entflohen und nach Frisco gelangt, wo er erfuhr, dass ich ihn als tot aufgegeben hatte und nach England gegangen war; er reiste mir dahin nach und traf mich schließlich gerade am Morgen meiner zweiten Hochzeit.«
»Ich las davon in einer Zeitung«, erklärte der Amerikaner, »der Name der Braut und die Kirche waren darin genannt, aber die Wohnung der Dame nicht angegeben.«
»Wir besprachen uns nun darüber, wie wir uns verhalten sollten, und Frank war für volle Offenheit; aber ich schämte mich so sehr, dass ich nur den einen Wunsch hatte, zu verschwinden und von den Hochzeitsgästen keinen je wiederzusehen. Höchstens wollte ich an Papa eine Zeile schreiben, zum Zeichen, dass ich noch am Leben sei. Es war grässlich für mich, wenn ich mir vorstellte, wie alle die hochadeligen Herren und Damen um die Hochzeitstafel
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