Sherlock Holmes - gesammelte Werke
und ist dabei so umsichtig, sanft und ruhig, wie nur irgendein weibliches Wesen. Sie ist meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Nur in einem einzigen Punkt ist sie meinen Wünschen nicht entgegengekommen. Zweimal hat mein Junge um ihre Hand angehalten, denn er liebt sie innig, aber beide Male hat sie ihn ausgeschlagen. Ich glaube, sie allein wäre imstande gewesen, ihn auf den rechten Weg zu bringen; an ihrer Seite hätte er vielleicht ein ganz neues Leben angefangen, aber ach! Jetzt ist es zu spät – für immer zu spät!
Nun, Mr Holmes, kennen Sie alle, die mit mir unter einem Dach leben, und ich will in meiner kläglichen Geschichte fortfahren.
Beim Kaffee nach dem Essen im Wohnzimmer teilte ich Arthur und Mary mit, was mir begegnet war, und was für einen kostbaren Schatz wir unter unserem Dach hatten; ich verschwieg dabei nur den Namen des Verpfänders. Lucy Parr, die den Kaffee hereingebracht hatte, war schon nicht mehr im Zimmer, das weiß ich gewiss; ob jedoch die Tür geschlossen war, kann ich nicht beschwören. Mary und Arthur interessierten sich sehr für die Sache und hätten das berühmte Schmuckstück gerne gesehen, allein ich dachte, es sei besser, es an seinem Platz zu lassen.
›Wo hast du es aufgehoben?‹, fragte Arthur.
›In meinem Schreibtisch.‹
›Ich will nur hoffen, dass heute Nacht nicht im Haus eingebrochen wird‹, fuhr er fort.
›Der Schreibtisch ist verschlossen.‹
›Oh, auf den passt jeder alte Schlüssel. Als kleiner Junge habe ich ihn schon selbst mit dem Schlüssel zum Buffet aufgemacht.‹
Er führte oft so kecke Reden, deshalb achtete ich nicht viel auf seine Bemerkung. Nun ging er mir aber gerade diesen Abend mit sehr ernstem Gesicht in mein Zimmer nach.
›Sag mal, Papa‹, sagte er und heftete dabei die Augen auf den Boden, ›kannst du mir zweihundert Pfund geben?‹
›Nein, gewiss nicht!‹, erwiderte ich scharf. ›Ich bin in Geldsachen schon viel zu nachsichtig gegen dich gewesen.‹ –
›Du warst allerdings sehr gut gegen mich‹, versetzte er, ›aber ich muss diese Summe haben, oder ich kann mich nie wieder im Klub blicken lassen.‹
›Das wäre ja ein wahres Glück!‹, rief ich aus.
›Jawohl; aber du wirst doch nicht wollen, dass ich mit Schimpf und Schande abziehe. Ich könnte die Schmach nicht ertragen. Ich muss das Geld irgendwo auftreiben; und wenn du es mir nicht geben willst, so muss ich andere Mittel und Wege versuchen.‹
Ich war sehr aufgebracht; denn das war das dritte Mal in einem Monat, dass er mich um Geld anging. ›Keinen Deut bekommst du von mir‹, rief ich. Darauf verbeugte er sich und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort.
Als ich allein war, schloss ich den Schreibtisch auf, überzeugte mich, dass mein Schatz unversehrt darin lag und schloss wieder ab. Dann machte ich einen Gang durch das Haus, um nachzusehen, ob alles verwahrt sei – eine Obliegenheit, die ich gewöhnlich Mary überlasse, die ich jedoch heute selbst erfüllen wollte. Unten an der Treppe angelangt, sah ich Mary am Seitenfenster des Hausgangs, das sie zumachte und verriegelte, während ich näher trat.
›Sag einmal, Papa‹, fragte sie mich in etwas erregtem Ton, ›hast du Lucy, dem Dienstmädchen, heute Abend Erlaubnis zum Ausgehen gegeben?‹
›Gewiss nicht.‹
›Sie kam soeben durch die Hintertür herein. Ich bin zwar ganz sicher, dass sie nur an der Seitenpforte mit irgendjemand zusammengetroffen ist, aber ich halte es doch für gefährlich, und wir sollten es nicht so hingehen lassen.‹
›Du musst morgen früh mit ihr sprechen, oder ich will es tun, falls es dir lieber ist. Hast du dich überzeugt, dass alles gut verschlossen ist?‹
›Vollkommen, Papachen.‹
›Dann gute Nacht.‹ Ich gab ihr einen Kuss und ging wieder in mein Schlafzimmer hinauf, wo ich bald im Schlummer lag.
Ich bestrebe mich, Ihnen alles zu sagen, Mr Holmes, was für den Fall irgend von Bedeutung sein kann. Aber ich möchte bitten, dass Sie mich über jeden Punkt, der Ihnen nicht völlig verständlich ist, ausdrücklich befragen.«
»Ihre Darstellung ist im Gegenteil ganz ausnehmend klar.«
»Nun komme ich zu einem Abschnitt meiner Geschichte, bei dem es mir ganz besonders darum zu tun ist, Ihnen alles anschaulich zu machen. Ich habe keinen sehr festen Schlaf, und die Unruhe in meinem Innern trug wohl dazu bei, dass dies noch weniger der Fall war als sonst.
Etwa um zwei Uhr morgens erwachte ich von einem Geräusch im Haus. Es
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