Sherlock Holmes - gesammelte Werke
zuzumuten. Dabei fuhr er mit den Händen in der Luft umher, wackelte mit dem Kopf und verzerrte sein Gesicht aufs Sonderbarste.
»Was in aller Welt mag nur mit ihm los sein?«, fragte ich. »Er schaut an den Häusern hinauf nach den Nummern.«
»Ich glaube, er kommt zu uns«, versetzte Holmes und rieb sich die Hände.
»Zu uns?«
»Jawohl; ich vermute stark, er beabsichtigt, mich zu Rate zu ziehen. Es hat ganz den Anschein danach. Ha, habe ich es nicht gesagt?«
Der Mann war pustend und schnaubend auf unsere Haustür losgestürzt und riss an der Klingel, dass das ganze Haus davon widerhallte.
Wenige Augenblicke darauf stand er im Zimmer, noch immer keuchend und mit den Händen umherfahrend, aber mit einem so kummervollen und verzweifelten Ausdruck in dem starren Blick, dass unsere unwillkürliche Heiterkeit sich mit einem Schlag in Schrecken und Mitleid verwandelte. Eine Zeit lang vermochte er kein Wort hervorzubringen; er wiegte sich nur hin und her und zerrte an seinen Haaren, als wäre er nahe daran, den Verstand zu verlieren. Holmes drückte ihn in den Sessel, setzte sich neben ihn, streichelte ihm die Hand und sprach ihm in der heiteren, beruhigenden Art zu, auf die er sich so gut verstand.
»Sie haben mich aufgesucht, um mir Ihre Geschichte zu erzählen, nicht wahr?«, begann er. »Das rasche Gehen hat Sie müde gemacht. Bitte, warten Sie nur, bis Sie sich erholt haben, dann wird es mir ein großes Vergnügen sein, Kenntnis von dem Fall zu nehmen, den Sie mir unterbreiten wollen.«
Eine oder zwei Minuten saß der Mann mit schwer arbeitender Brust da, gegen seine Erregung kämpfend. Dann fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Augen, presste die Lippen zusammen und wandte uns sein Gesicht zu.
»Sie halten mich sicherlich für verrückt«, begann er.
»Soviel ich sehe, hat Sie irgendein schwerer Kummer getroffen«, antwortete Holmes.
»Gott weiß es, ja! – Ein Kummer, so plötzlich und so furchtbar, dass ich den Verstand darüber verlieren möchte. Die Schande vor der Öffentlichkeit würde ich zu ertragen gewusst haben, obwohl an meinem Namen bisher noch nie ein Flecken gehaftet hat; Kummer im Privatleben bleibt auch keinem Menschen erspart, aber dass beides zusammen und in so schrecklicher Gestalt über mich hereinbricht, das hat mich im Innersten erschüttert. Außerdem betrifft die Sache nicht mich allein. Einer der Höchststehenden im Land kann dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich nicht ein rettender Ausweg aus dieser schauderhaften Geschichte findet.«
»Bitte beruhigen Sie sich«, erwiderte Holmes, »und sagen Sie mir klar und deutlich, wer Sie sind und was Ihnen begegnet ist.«
»Meinen Namen«, fuhr der andere fort, »haben Sie vermutlich schon oft nennen hören. Ich bin Alexander Holder, Teilhaber der Bank Holder & Stevenson in der Threadneedle Street.«
Der Name war uns in der Tat wohlbekannt als der des älteren Teilhabers im zweitgrößten Privatbankinstitut der City. Was konnte nur vorgekommen sein, um einen der angesehensten Bürger Londons in diese wahrhaft klägliche Verfassung zu bringen? In höchster Spannung harrten wir, bis er sich mit erneuter Kraftanstrengung dazu aufraffte, seine Geschichte zu erzählen.
»Ich fühle«, begann er, »dass die Zeit kostbar ist. Deshalb habe ich mich augenblicklich hierher auf den Weg gemacht, nachdem mir der Polizeiinspektor nahegelegt hatte, mich Ihrer Mitwirkung zu versichern. Ich fuhr mit der unterirdischen Bahn und bin dann bis zur Baker Street vollends zu Fuß gelaufen, denn die Wagen fahren so langsam bei diesem Schnee. Deshalb war ich so außer Atem; ich mache mir nämlich sonst nur sehr wenig Bewegung. Jetzt ist mir wieder besser, und ich will Ihnen die Tatsachen möglichst kurz und klar vortragen.
Sie werden wohl wissen, dass es für den schwunghaften Betrieb eines Bankgeschäftes ebenso viel auf lohnende Anlagen für die Kapitalien ankommt wie auf die stete Erweiterung der Verbindungen und die immer ausgedehntere Heranziehung von Depositoren. Zu den einträglichsten Geldanlagen gehört die Gewährung von Darlehen gegen unzweifelhafte Pfandsicherheit. Wir haben die paar letzten Jahre viel in dieser Richtung gearbeitet und zahlreichen vornehmen Familien erhebliche Summen auf ihre Gemäldesammlungen, ihre Bibliotheken oder ihr Silberzeug vorgestreckt. Gestern Vormittag saß ich in meinem Büro, als mir einer der Angestellten unseres Bankhauses eine Visitenkarte überbrachte. Wie ich den Namen las, war ich ganz
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