Sherlock Holmes - gesammelte Werke
zuwandte. Es war eine kurze, dringende Aufforderung. Sie lautete:
»Kommen Sie bitte morgen Mittag in den ›Schwarzen Schwan‹ in Winchester. Kommen Sie ganz bestimmt, ich weiß nicht mehr aus noch ein.
Hunter.«
»Wollen Sie mich begleiten?«, fragte Holmes aufschauend.
»Ja, gerne.«
»Dann sehen Sie nur gleich nach.«
»Ein Zug um halb zehn Uhr«, sagte ich, in mein Kursbuch blickend, »trifft in Winchester um halb zwölf Uhr ein.«
»Das passt ja ganz gut. Dann will ich meine Untersuchung hier lieber auf sich beruhen lassen, denn wir müssen morgen früh frisch und munter sein.«
Am nächsten Vormittag befanden wir uns gegen elf Uhr nicht mehr weit vom Ziel unserer Fahrt. Holmes hatte sich während der ganzen Zeit in die Morgenblätter vergraben. Als wir jedoch auf dem Gebiet von Hampshire angelangt waren, warf er sie beiseite, um seine Blicke an der Gegend zu weiden. Es war ein wundervoller Frühlingstag, am lichtblauen Himmel flogen weiße Federwölkchen hin, und bei dem hellen Sonnenschein lag in der Luft etwas wonnig Erfrischendes. Rings in der Runde bis zu den fernen Hügeln von Aldershot blickten allenthalben die roten und grauen Dächer der Gehöfte aus dem zarten jungen Grün hervor.
»Wie frisch und hübsch diese Häuschen daliegen!«, rief ich mit der Begeisterung eines Menschen, der eben erst die Nebeldünste Londons hinter sich gelassen hatte.
Doch Holmes schüttelte ernst den Kopf. »Wissen Sie, Watson«, meinte er, »das gehört mit zu den Schattenseiten meiner Geistesanlage, dass ich immer alles unter dem Gesichtspunkt des Falles ansehen muss, der mich gerade beschäftigt. Sie haben beim Anblick dieser zerstreuten Behausungen nur die Empfindung ihrer Schönheit. Ich dagegen muss immer daran denken, wie einsam sie liegen und wie leicht sich darin ein Verbrechen begehen lässt, das seiner Strafe entgeht.«
»Gütiger Himmel«, rief ich aus, »wer möchte bei diesen lieben alten Heimstätten an Verbrechen denken?«
»Mich erfüllen sie stets mit einem gewissen Schauder. Nach meinen Erfahrungen bin ich fest überzeugt: Die verrufensten Gassen Londons liefern keine so reiche Ausbeute an Missetaten als dieses lachende Gelände hier.«
»Das klingt ja ganz entsetzlich!«
»Und doch liegt der Grund sehr nahe. In der großen Welt tritt die öffentliche Meinung ergänzend ein, wo die Macht des Gesetzes nicht ausreicht. Da gibt es keine noch so elende Gasse, wo der Schmerzensschrei eines gequälten Kindes oder die rohe Gewalttat eines Trunkenbolds nicht Mitleid und Empörung bei den Nachbarn erweckte, auch sind sämtliche Werkzeuge der Rechtspflege jederzeit so bei der Hand, dass ein Wort der Klage hinreicht, um sie in Bewegung zu setzen, und es ist nur ein Schritt vom Verbrechen zum Gefängnis. Betrachten Sie dagegen diese einsamen Häuser, umgeben von eigenem Grund und Boden, bewohnt von armem, unwissendem Volk, das Gesetz und Recht kaum von ferne kennt. Stellen Sie sich die Taten höllischer Grausamkeit, heimlicher Verruchtheit vor, die sich vielleicht jahraus jahrein an solchen Stätten abspielen, ohne dass eine Seele es ahnt. Wäre die Familie, bei der unsere Schutzbefohlene einzutreten hatte, in Winchester, ich würde mir niemals Sorgen um sie gemacht haben; dass sie fünf Meilen von dort entfernt auf dem Land wohnt, darin liegt die Gefahr. Und doch ist sie selbst offenbar persönlich nicht bedroht.«
»Nein, wenn sie uns nach Winchester entgegenkommen kann, so darf sie ja ihren Aufenthaltsort ungehindert verlassen.«
»Gewiss. Ihre Freiheit ist ihr nicht genommen.«
»Was kann aber nur dahinterstecken? Wissen Sie denn gar keine Erklärung dafür?«
»Ich habe mir sieben verschiedene Erklärungen ausgedacht, von denen jede sich mit den Tatsachen, soweit wir solche kennen, decken würde. Aber welche die richtige ist, lässt sich nur aufgrund der neuen Mitteilungen bestimmen, die unser zweifellos harren. Nun, da ist ja bereits der Turm der Kathedrale, wir werden also bald alles wissen, was Miss Hunter uns mitzuteilen hat.«
Das Gasthaus ›Zum schwarzen Schwan‹ an der Hauptstraße, nicht fern vom Bahnhof gelegen, steht in gutem Ruf; dort fanden wir Miss Hunter bereits unser wartend. Sie hatte ein Zimmer für uns bestellt, und auf dem Tisch stand ein Imbiss bereit.
»Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie lebhaft. »Es ist sehr gütig von Ihnen beiden, aber ich weiß auch wirklich nicht, was ich tun soll. Ihr Rat wird mir von unschätzbarem Wert sein.«
»Bitte,
Weitere Kostenlose Bücher