Sherlock Holmes - gesammelte Werke
gelegentlichem Genuss von Kokain abgesehen, fröhnte er keinerlei Leidenschaft, und auch zu diesem Mittel griff er nur, wenn gar kein Fall und keine interessante Zeitungsnachricht die öde Gleichförmigkeit der Tage unterbrechen wollte.
Eines schönen Frühlingstags hatte er sich endlich dazu bewegen lassen, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen, wo eben das erste zarte Grün an den Ulmen sprosste und die Kastanien anfingen, ihre Knospen zu öffnen und ihre fünf Blattfinger auszuspreizen. Zwei Stunden lang strichen wir umher, fast ohne ein Wort zu reden, wie es sich für zwei Busenfreunde geziemt. Als wir wieder in die Baker Street kamen, war es fast fünf Uhr geworden.
»Entschuldigen Sie!«, sagte unser Laufbursche, als er uns die Tür aufmachte. »Es ist ein Herr hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt.«
Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Einen
Nachmittagsbummel und keinen mehr!«, sagte er. »Der Herr ist also wieder gegangen?«
»Ja.«
»Haben Sie ihn nicht ersucht, einzutreten?«
»Ja, er hat auch gewartet.«
»Wie lange denn?«
»Eine halbe Stunde. Es war ein sehr aufgeregter Herr. Immer ist er herumgegangen und hat auf den Boden gestampft. Ich habe draußen an der Tür gestanden und ihn gehört. Am Ende kommt er heraus und schreit: ›Wird der Mann denn gar nicht nach Hause kommen?‹ So hat er gesagt, Mr Holmes! ›Sie brauchen bloß ein bisschen länger zu warten‹, sag ich. ›Dann will ich lieber im Freien warten, denn hier erstick ich fast‹, sagte er. ›Ich bin bald wieder hier.‹ Und damit ging er auf und davon, und was ich auch redete, alles war umsonst.«
»Gut, gut, du kannst nichts dafür«, sagte Holmes, als wir ins Zimmer gingen. »Es ist doch recht unangenehm, Watson! Mir tat ein neuer Fall blutnot, und nach der Ungeduld, die der Mann zeigte, scheint es keine kleine Sache zu sein. Hallo! Das ist doch nicht Ihre Tabakpfeife auf dem Tisch! Er muss seine hiergelassen haben. Ein schöner alter Kopf mit einem langen Mundstück von Bernstein. Ich möchte wissen, wie viel echte Bernsteinspitzen es in London gibt. Die Leute denken, wenn eine Fliege drin ist, müsse er echt sein. Dabei gibt es eine eigene Industrie, unechte Fliegen in unechten Bernstein zu setzen. Jedenfalls ist der Mann sehr aufgeregt gewesen, dass er eine Pfeife liegenlässt, auf die er offenbar große Stücke hält.«
»Woher wissen Sie, dass er viel auf sie hält?«, fragte ich.
»Nun, meiner Schätzung nach hat die Pfeife neu sieben und einen halben Schilling gekostet. Sie ist aber, wie Sie sehen, zweimal ausgebessert worden, einmal am Holz und einmal am Bernstein. Jedes Mal hat man bei der Reparatur ein Band von Silber herumgelegt, das mehr gekostet hat als die ganze Pfeife. Dem Mann muss also die Pfeife sehr teuer sein, wenn er sie lieber flicken lässt, statt um den gleichen Preis eine neue zu kaufen.«
»Noch was?«, fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in seiner Hand hin und her und betrachtete sie in der ihm eigenen nachdenklichen Weise.
Er hielt sie in die Höhe und betippte sie mit seinem langen, dünnen Mittelfinger, wie etwa ein Professor der Osteologie, der einen Knochen demonstriert.
»Pfeifen sind manchmal außerordentlich interessant«, sagte er. »Nichts besitzt mehr Individualität, ausgenommen etwa Uhren und Schuhsenkel. Was sich aber hier zeigt, ist weder sehr ausgesprochen noch sehr bedeutungsvoll. Der Eigentümer ist offenbar ein kräftiger Mann, linkshändig, mit wohlerhaltenen Zähnen, nicht sehr ordnungsliebend und in guten Verhältnissen.«
Mein Freund äußerte dies so obenhin; ich sah aber, dass er mich dabei fixierte, um zu erkennen, ob mir seine Schlussfolgerungen klar seien.
»Sie denken, wer aus einer Pfeife für sieben Schilling raucht, muss wohlhabend sein?«, sagte ich.
»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze«, antwortete Holmes, indem er ein paar Krümel in seine offene Hand klopfte. »Da er schon für den halben Preis ein ausgezeichnetes Kraut haben kann, muss er in guten Verhältnissen leben.«
»Und die anderen Punkte?«
»Er pflegt seine Pfeife an Lampen und Gasbrennern anzuzünden. Sie sehen, sie ist auf einer Seite ganz versengt. Natürlich kann das nicht von Streichhölzern herrühren. Warum sollte einer auch ein Streichholz an die Seite seiner Pfeife halten? An der Lampe kann man sie aber nicht anzünden, ohne dass dabei der Kopf angesengt wird. Und es trifft die rechte Seite der Pfeife. Daraus entnehme ich, dass er linkshändig
Weitere Kostenlose Bücher