Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Rechnung selbst ersah ich, dass eine Dame dabei im Spiel war, die sehr teuere Bedürfnisse hat. Wie hoch auch das Gehalt Ihrer Angestellten sein mag, so glaube ich doch nicht, dass sie ihren Frauen Straßenkostüme für zweiundzwanzig Pfund kaufen können. Ich fragte Mrs Straker nach dem Kleid, ohne dass sie meine Absicht merkte; und als ich mich überzeugt hatte, dass es nie in ihre Hände gelangt sei, schrieb ich mir die Adresse der Schneiderin auf. Dass ich mich nur mit Strakers Fotografie bei ihr einzufinden brauchte, um den rätselhaften Mr Darbyshire aus der Welt zu schaffen, dachte ich mir wohl.
Von da ab war alles sonnenklar. Straker hatte das Pferd in den Hohlweg geführt, wo man das Licht nicht sehen konnte. Unterwegs fand er Simpsons Krawatte, die dieser auf der Flucht verloren hatte, und hob sie auf, vermutlich in der Absicht, dem Pferd damit das Bein festzubinden. Im Hohlweg angelangt, trat er hinter das Pferd und machte Licht, aber der plötzliche grelle Schein erschreckte das Tier, welches wohl instinktmäßig fühlen mochte, dass irgendein Unheil im Werke sei; es schlug aus und traf Straker mit dem Huf gerade auf die Stirn. Trotz des Regens hatte er schon den Mantel abgelegt, um sein schwieriges Vorhaben auszuführen; so kam es, dass er sich im Fallen mit dem Messer die Wunde am Schenkel beibrachte. – Ist Ihnen die Sache jetzt verständlich?«
»Vollkommen«, rief der Oberst. »Sie sind ein wunderbarer Mensch – es ist gerade, als wären Sie dabei gewesen!«
»Meinen letzten Pfeil habe ich so ziemlich ins Blaue geschossen. Es fuhr mir durch den Kopf, dass ein so schlauer Mensch wie Straker den misslichen Sehnenschnitt gewiss nicht vornehmen würde, ohne sich erst etwas darin zu üben. Woran konnte er seine Versuche machen? Mein Blick fiel auf die Schafe, und aus der Antwort, die mir auf meine dahin zielende Frage wurde, ersah ich zu meiner Verwunderung, dass ich ganz richtig geraten hatte.«
»Ihr Scharfsinn ist wirklich staunenswert, Mr Holmes.«
»Bei meiner Rückkehr nach London suchte ich die Schneiderin auf. Sie erkannte Straker sofort nach dem Bild als einen ausgezeichneten Kunden namens Darbyshire, dessen schöne Frau, eine sehr auffallende Erscheinung, große Vorliebe für kostspielige Kleider habe. Ohne Zweifel hat ihn dieses Weib über Hals und Kopf in Schulden gestürzt und ihn so auf den schändlichen Plan gebracht.«
»Nur eins haben Sie noch im Dunkeln gelassen«, sagte der Oberst. »Wo war denn das Pferd?«
»Es war durchgegangen, und einer Ihrer Nachbarn hat es in Pflege genommen. Nach dieser Richtung hin werden wir wohl Gnade für Recht ergehen lassen müssen. – Eben hält der Zug; ich glaube, wir sind jetzt in Clapham, und in zehn Minuten kommen wir zur Victoria Station. Wenn Sie uns begleiten wollen, Herr Oberst, um bei mir zu Hause eine Zigarre zu rauchen, werde ich Ihnen mit Vergnügen noch alle übrigen Einzelheiten mitteilen, die Sie etwa zu wissen wünschen.«
D AS GELBE G ESICHT
Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen über einige von den zahlreichen Fällen, in denen die glänzende Begabung meines Freundes sich offenbarte, weile ich naturgemäß mehr bei seinen Erfolgen als bei seinen Misserfolgen. Und dabei leitet mich nicht sowohl die Rücksicht auf seinen Ruf – denn tatsächlich erscheinen seine Tatkraft und seine Findigkeit nie bewundernswerter, als wenn er sich selbst in eine Sackgasse verrannt hatte –, sondern es bestimmt mich zu meiner Auswahl auch der Umstand, dass, wo er erfolglos blieb, auch sonst niemand das Ziel erreichte und den Schleier lüftete. Immerhin ist es ein paarmal vorgekommen, dass sich in solchen Fällen doch noch nachträglich das Rätsel gelöst hat. In meinen Notizen findet sich etwa ein halbes Dutzend von Fällen dieser Art, worunter die Geschichte von dem zweiten Tüpfel und die, welche ich eben erzählen will, bei Weitem am interessantesten sind.
Sherlock Holmes war an sich kein Freund gymnastischer Übungen. Übertrafen ihn auch nur wenige an Muskelkraft und war er auch zweifellos einer der besten Boxer, die mir je vorgekommen sind, erschien ihm doch zwecklose körperliche Anstrengung als Kraftvergeudung, und er warf sich nur ins Geschirr, wenn ihn ein bestimmtes Ziel lockte. Dann war er einfach unermüdlich und seine Spannkraft unerschöpflich. Es ist eigentlich sonderbar, dass sein Körper unter diesen Umständen beständig so leistungsfähig blieb; aber das lag wohl daran, dass er stets sehr mäßig lebte. Von
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