Sherlock Holmes - gesammelte Werke
umhin. Glauben Sie, dass die Herzogin ihre Hand dabei im Spiel hat?«
Der Minister zögerte begreiflicherweise etwas.
»Ich glaube nicht«, sagte er endlich.
»Die andere einleuchtende Erklärung würde dann sein, dass das Kind geraubt oder entführt ist, um ein Lösegeld zu erpressen. Ist noch keine derartige Aufforderung an Sie ergangen?«
»Nein.«
»Noch eine Frage, Euere Hoheit. Soviel ich verstanden habe, haben Sie Ihrem Sohn am Tag vor der unheilvollen Nacht einen Brief geschrieben.«
»Nein, am Tag vorher.«
»Jawohl, aber der Brief ist an diesem Tag angekommen?«
»Ja.«
»Stand vielleicht irgendetwas darin, was den Jungen zu einem solchen Schritt veranlasst haben könnte?«
»Nein, durchaus nicht.«
»Haben Sie den Brief persönlich zur Post gegeben?«
Anstelle des Herzogs erwiderte sein Sekretär, indem er erregt ins Wort fiel:
»Seine Hoheit pflegt überhaupt keine Briefschaften persönlich aufzugeben. Der Brief lag mit anderen auf seinem Arbeitstisch, und ich habe die Sachen selbst befördert.«
»Wissen Sie genau, dass dieser Brief dabei war?«
»Jawohl; ich habe ihn bemerkt.«
»Wieviele Briefe haben Euere Hoheit an jenem Tag geschrieben?«
»Zwanzig bis dreißig; ich habe eine sehr umfangreiche Korrespondenz. Doch, ist das nicht nebensächlich?«
»Nicht ganz«, sagte Holmes.
»Ich habe aus eigenem Antrieb«, fuhr der Herzog fort, »der Polizei geraten, ihre Aufmerksamkeit nach Südfrankreich zu richten. Ich habe schon erwähnt, dass ich zwar nicht glaube, dass die Herzogin eine solche Tat unterstützt, aber der Junge hatte die absonderlichsten Ideen, sodass es nicht ausgeschlossen erscheint, dass er auf Anstiftung und mithilfe dieses Deutschen zu ihr geflohen ist. Ich glaube, Herr Direktor, dass wir nun ins Schloss zurückkehren können.«
Ich konnte Holmes ansehen, dass er gerne noch mehr Fragen gestellt hätte, aber der Herzog hatte auf diese unerwartete Art das Gespräch plötzlich abgebrochen. Ich fand es begreiflich, dass seiner hoch aristokratischen Natur die Erörterung seiner intimsten Familienverhältnisse mit einem Fremden sehr unangenehm war, und dass er fürchtete, jede neue Frage könnte neues Licht in die dunklen Schatten seiner sorgfältig verheimlichten persönlichen Angelegenheiten bringen.
Als der Herzog und sein Sekretär abgefahren waren, machte sich mein Freund sofort mit dem ihm eigenen Eifer an die Arbeit.
Zunächst wurde eine gründliche Untersuchung der Schlafkammer des Jungen vorgenommen; sie hatte jedoch weiter kein Ergebnis, als die Überzeugung in uns zu festigen, dass er nur durch das Fenster entkommen sein konnte. Auch die Besichtigung des Zimmers des deutschen Lehrers lieferte keine neuen Anhaltspunkte. Er war ebenfalls an dem starken Efeugeranke durch das Fenster hinuntergeklettert, denn wir sahen einen Zweig, der unter seinem Gewicht abgebrochen war, und als wir mit der Laterne den Boden absuchten, fanden wir einen Eindruck auf dem Rasen, wo der Lehrer niedergesprungen war. Das war aber auch die einzige sichtbare Spur dieser rätselhaften nächtlichen Flucht.
Holmes ging dann allein weg und kam erst um elf Uhr wieder. Er hatte sich eine genaue Generalstabskarte von der Gegend verschafft und brachte sie mit in mein Zimmer, wo er sie auf meinem Bett ausbreitete. Nachdem er dann das Licht zurechtgestellt hatte, beugte er sich mit der Pfeife darüber und bezeichnete mir gelegentlich interessante Punkte mit der rauchenden Bernsteinspitze.
»Dieser Fall übersteigt die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit, Watson«, sagte er. »Er hat entschieden eigentümliche begleitende Umstände. Wir müssen zuerst die Örtlichkeit genau studieren, das ist für unsere späteren Nachforschungen von größter Wichtigkeit.
Sehen Sie mal hierher. Dieses dunkle Viereck ist die Klosterschule. Ich will eine Stecknadel dahin stecken. Diese Linie hier bedeutet die Hauptstraße. Sie läuft, wie Sie sehen, von Westen nach Osten und lässt die Schule links liegen, und ungefähr eine Meile weit zweigt sich kein Seitenweg oder Pfad davon ab. Wenn die zwei Leute überhaupt eine Straße benutzt haben, muss es unbedingt diese gewesen sein.«
»Allerdings.«
»Infolge eines günstigen Zufalls sind wir nun über die Vorgänge auf dem in Betracht kommenden Teil dieser Straße während der fraglichen Nacht ziemlich genau unterrichtet. An der Stelle, wo ich mit der Pfeife hindeute, stand von zwölf bis sechs ein Gendarm Wache. Es ist, wie Sie sehen können, der erste Kreuzweg nach
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