Sherlock Holmes - gesammelte Werke
anklopften.
Ein hochgewachsener, blondhaariger, schlanker junger Mann öffnete die Tür und hieß uns willkommen, als wir ihm den Zweck unseres Besuches gesagt hatten. Das Zimmer enthielt wirklich einige besonders schöne Stücke mittelalterlicher Architektur. Holmes war über eins derselben so entzückt, dass er darauf bestand, es in sein Notizbuch einzuzeichnen. Er brach dabei seinen Bleistift ab, sodass er sich von Mr Gilchrist einen leihen musste, und schließlich borgte er sich auch noch ein Messer von ihm, um seinen eigenen wieder zu spitzen. Dasselbe Pech hatte er auch wieder, als er in der Wohnung des Inders eine Skizze in sein Buch zeichnete. Ras war ein ruhiger, junger Mensch von kleiner Gestalt und mit einer krummen Nase; er sah uns etwas schief an und war offenbar froh, als mein Freund seine Architekturstudien beendigt hatte. Ich konnte nicht bemerken, dass Holmes in dem einen oder anderen Fall auf die Spur gekommen war, die er suchte. Dem dritten Studenten erschien unser Besuch sehr ungelegen. Als wir anklopften, fragte er, statt zu öffnen, was wir wollten, und auf unsere Antwort erwiderte er nur mit einem lauten mächtigen Fluchen. »Mir egal, wer Sie sind. Gehn Sie zum Kuckuck!«, brüllte drin eine Stimme. »Morgen ist Examen, ich kann keine Störung brauchen.«
»Ein roher Kerl«, sagte unser Führer, rot vor Ärger, als wir die Treppe hinunterstiegen. »Natürlich hat er nicht gewusst, dass ich’s war, aber nichtsdestoweniger war sein Benehmen sehr unhöflich und, in Anbetracht der Umstände, tatsächlich verdächtig.«
Holmes’ Erwiderung lautete sehr merkwürdig.
»Können Sie mir die genaue Größe dieses Mannes angeben?«, fragte er.
»Das kann ich wirklich nicht sagen, Mr Holmes. Er ist größer als der Inder, aber kleiner als Gilchrist. Er wird ungefähr fünfeinhalb Fuß haben.«
»Das ist sehr richtig«, sagte Holmes. »Und nun wünsche ich Ihnen Gute Nacht, Herr Professor!«
Dieser stieß einen lauten Ruf des Erstaunens und Schreckens aus.
»Gütiger Gott, Mr Holmes, Sie werden mich doch nicht so kurz abfertigen! Sie scheinen sich meine Lage gar nicht klarzumachen. Morgen ist die Prüfung. Ich muss unbedingt heute Abend noch handeln. Ich kann das Examen nicht vor sich gehen lassen, nachdem eins dieser Papiere abgeschrieben ist. Bekannt soll der Vorfall aber auch nicht werden. Denken Sie bloß an den Skandal! Sie müssen sich an meine Stelle versetzen, um meine peinliche Situation ganz zu erfassen.«
»Sie können nichts daran ändern. Ich werde morgen früh zu Ihnen herumkommen und die Sache weiter besprechen. Möglicherweise bin ich dann schon in der Lage, Ihnen einen bestimmten Bescheid zu geben, der Sie instand setzt, Maßnahmen zu ergreifen. Unterdessen lassen Sie alles, wie’s ist – ganz genau.«
»Jawohl, Mr Holmes.«
Der Gelehrte machte ein so unglückliches Gesicht, dass ein leichtes Lächeln um Holmes’ Lippen spielte.
»Seien Sie vollkommen beruhigt. Wir werden sicher einen Ausweg finden. Ich will die schwarzen Schmutzklümpchen und auch die Bleistiftschnitzel mitnehmen. Adieu.«
Als wir wieder in dem dunkeln Hof standen, blickten wir nochmals nach den Fenstern hinauf. Der Inder spazierte noch immer ruhelos in seinem Zimmer auf und ab. Die anderen waren nicht zu sehen.
»Nun, Watson, wie denken Sie darüber?«, fragte mich Holmes, als wir auf der Straße waren. »Ganz wie ein kleines Kartenkunststück, nicht wahr? Sie haben drei Buben. Einer davon ist’s gewesen. Nun raten Sie! Welchen halten Sie für den richtigen?«
»Den Burschen in der obersten Etage, der so fluchte. Ihm hat zudem der Professor das schlechteste Zeugnis ausgestellt. Aber der Inder machte auch ein merkwürdiges Gesicht. Warum geht er die ganze Zeit im Zimmer auf und ab?«
»Da ist nichts weiter dabei. Das tun viele Menschen, wenn sie zum Beispiel etwas auswendig lernen wollen.«
»Er sah uns aber so feindselig von der Seite an.«
»Das würden Sie wohl auch tun, wenn Sie unvermutet eine Anzahl fremder Menschen überfiele und Sie sich auf die am nächsten Tag stattfindende Prüfung vorbereiten wollten und Ihnen daher jede Minute kostbar wäre. Nein, dabei kann ich nichts finden. Sein Bleistift und sein Messer waren auch nicht verdächtig. Aber mit jenem Burschen ist’s nicht in der Ordnung.«
Holmes nickte unbestimmt gegen das Haus.
»Mit welchem?«
»Ei, mit Bannister, dem Diener. Er hat die Hand dabei im Spiel. Ganz gewiss, Watson.«
»Er hat auf mich den Eindruck eines durchaus
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