Sherlock Holmes - gesammelte Werke
dieses Bundes ein Interesse an dem Brief und seiner Veröffentlichung, um zwischen ihm und uns einen Bruch herbeizuführen?«
»Ganz recht.«
»Und an wen würde dieses Dokument gesandt werden, wenn es in die Hände der Feinde fiele?«
»An eine der großen europäischen Kanzleien. Wahrscheinlich eilt er im gegenwärtigen Augenblick schon mit der ganzen Geschwindigkeit, welche die Dampfkraft gewähren kann, seinem Bestimmungsort entgegen.«
Mr Trelawney Hope ließ den Kopf auf die Brust sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Minister legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Es ist ein unglücklicher Zufall, mein Lieber. Niemand kann Ihnen deshalb einen Vorwurf machen. Sie haben keine Vorsichtsmaßregel außer Acht gelassen. Nun, Mr Holmes, Sie haben den vollen Tatbestand gehört. Was empfehlen Sie zu tun?«
Holmes schüttelte traurig den Kopf.
»Sie meinen, dass, falls das Schriftstück nicht wieder beigeschafft wird, Krieg ausbrechen wird?«
»Ich halte es für sehr wahrscheinlich.«
»Dann rüsten Sie zum Krieg.«
»Das ist ein schlechter Trost, Mr Holmes.«
»Vergegenwärtigen Sie sich die Sachlage, Exzellenz. Dass der Brief nach halb zwölf Uhr weggekommen ist, scheint mir sehr fraglich, denn, soviel ich verstanden habe, hat Mr Hope und seine Gemahlin von dieser Zeit an bis zum Morgen, wo er vermisst wurde, das Zimmer nicht verlassen. Er muss also gestern Abend zwischen halb acht und halb zwölf fortgekommen sein, wahrscheinlich näher an dem früheren Zeitpunkt, weil, wer ihn auch entwendet haben mag, offenbar gewusst hat, dass er dort steckte und sich ihn möglichst bald anzueignen versucht hat. Wenn nun ein Dokument von solcher Wichtigkeit um diese Stunde gestohlen worden ist, wo mag es da jetzt schon sein? Niemand wird es behalten haben, sondern es wird möglichst rasch denen übermittelt worden sein, die es gebrauchen können. Welche Aussichten bestehen unter diesen Umständen für uns, es zu überholen oder überhaupt aufzuspüren? Es liegt außerhalb des Bereichs der Möglichkeit.«
Der Premierminister stand von seinem Sitz auf.
»Was Sie sagen, ist vollkommen logisch gedacht, Mr Holmes. Ich sehe ein, dass uns die Sache in der Tat aus der Hand genommen ist.«
»Wir wollen einmal, um nichts unversucht zu lassen, den Fall annehmen, dass ihn das Mädchen oder der Diener genommen hätte ...«
»Es sind beide alte, erprobte Leute.«
»Ihr Schlafgemach liegt, wie Sie gesagt haben, im zweiten Stock, hat keinen Eingang von außen und von innen kann niemand hineingehen, ohne bemerkt zu werden. Es muss also jemand aus dem Haus gewesen sein. Wem würde es der Dieb überbringen? Einem der verschiedenen internationalen Spione und Geheimagenten, deren Namen ich so ziemlich kenne. Drei können als die Meister ihrer Zunft gelten. Ich werde meine Nachforschungen damit beginnen, dieselben aufzusuchen und nachzusehen, ob sie zu Hause sind. Ist einer fort – besonders seit der letzten Nacht – so werden wir einen Anhaltspunkt dafür haben, wo der Brief hingekommen ist.«
»Warum sollte er weg sein?«, fragte der Staatssekretär. »Er könnte das Schriftstück doch ebenso gut einer Gesandtschaft in London übergeben.«
»Das glaube ich nicht. Diese Agenten handeln unabhängig, und ihre Beziehungen zu den Botschaften sind oft gespannt.«
Der Minister nickte zustimmend.
»Ich glaube, Sie haben recht, Mr Holmes. Ein so wertvolles Stück würden sie persönlich und der betreffenden Regierung selbst überbringen. Ich bin der Ansicht, dass Sie in dieser Weise sehr geschickt vorgehen. Übrigens können wir nicht alle unsere übrigen Pflichten vernachlässigen, Mr Hope; dieses Missgeschick können wir doch nicht mehr ändern. Sollten im Laufe des Tages irgendwelche Wendungen eintreten, werden wir Sie’s wissen lassen, Mr Holmes, und Sie werden uns umgekehrt auch die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen mitteilen.«
Die beiden Staatsmänner verbeugten sich und gingen ernst zur Tür hinaus.
Als sie weg waren, zündete Holmes schweigend seine Pfeife an und saß längere Zeit tief in Gedanken versunken auf seinem Stuhl. Ich hatte die Morgenzeitung zur Hand genommen und las mit großem Interesse einen Artikel über ein sensationelles Verbrechen, das während der Nacht in London passiert war, als mein Freund plötzlich aufstand und die Pfeife beiseitelegte.
»Jawohl«, sagte er dann, »es gibt keinen anderen Weg, um einen Ausgangspunkt zu finden. Die Situation ist verzweifelt, aber nicht hoffnungslos.
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