Sherlock Holmes - gesammelte Werke
benachrichtigen, läuft am Ende darauf hinaus, das Publikum zu benachrichtigen. Und das wollten wir in erster Linie gerade vermeiden.«
»Und warum?«
»Weil das fragliche Schriftstück von so ungeheuerer Bedeutung ist, dass sein Bekanntwerden sehr leicht – ich möchte fast sagen, sehr wahrscheinlich – die schwierigsten europäischen Verwicklungen zur Folge haben könnte. Es ist nicht zu viel gesagt, dass Krieg oder Frieden von dem Ausgang der Angelegenheit abhängen. Wenn seine Wiederbeschaffung nicht vollkommen geheim geschehen kann, braucht es ebenso gut überhaupt nicht wiedergefunden zu werden, denn die Diebe verfolgen auch nur den Zweck, seinen Inhalt in die große Öffentlichkeit zu bringen.«
»Ich verstehe. Nun, Herr Staatssekretär, ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mir genau angeben wollten, unter welchen Umständen dieses Dokument verschwunden ist.«
»Das kann ich Ihnen in wenigen Worten mitteilen, Mr Holmes. Der Brief – es war nämlich ein Brief von einem fremden Potentaten – traf vor sechs Tagen bei uns ein. Er war von derartiger Bedeutung, dass ich ihn nie in meinem Büroschrank liegen ließ, sondern allabendlich in meine Privatwohnung in Whitehall Terrace mitnahm und ihn in meinem Schlafzimmer in meinem verschließbaren Briefbehälter aufbewahrte. Er war auch vergangene Nacht darin. Das weiß ich bestimmt. Ich schloss erst, während ich mich zum Essen umkleidete, das Kästchen auf und sah das Schriftstück noch drin. Heute Morgen war es fort. Das Kästchen hatte die ganze Nacht auf meinem Toilettetisch gestanden. Ich schlafe sehr leicht und meine Frau gleichfalls. Wir können beide beschwören, dass während der Nacht kein Mensch ins Zimmer gekommen sein kann. Und doch fehlt der Brief.«
»Um wie viel Uhr speisten Sie?«
»Um halb acht Uhr.«
»Wann gingen Sie zu Bett?«
»Meine Frau war im Theater. Ich wartete auf sie. Es war halb zwölf, als wir uns ins Schlafzimmer zurückzogen.«
»Dann hatte der Kasten mit dem Brief also vier Stunden unbewacht dort gestanden?«
»Es ist aber keinem Menschen gestattet, dieses Zimmer zu betreten, außer des Morgens dem Zimmermädchen und meinem Diener und der Zofe meiner Frau. Es sind lauter zuverlässige Leute, die schon lange im Haus sind. Außerdem konnte keines von ihnen wissen, dass sich etwas Wertvolleres als die gewöhnlichen geschäftlichen Schreiben in dem Kästchen befand.«
»Wer kannte das Vorhandensein dieses Briefes?«
»Niemand im Haus.«
»Ihre Gattin wusste es doch wohl?«
»Auch nicht; ich hatte meiner Frau nichts davon gesagt, erst heute früh habe ich ihr den Verlust mitgeteilt.«
Der Premier nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Ich habe stets gewusst, wie hoch Sie Ihre amtlichen Pflichten einschätzen«, sagte er. »Ich bin überzeugt, dass sie Ihnen, wenn es sich um ein geheimes Aktenstück von solcher Wichtigkeit handelt, über Ihre Familienbande gehen.«
Der Sekretär verneigte sich tief.
»Sie lassen mir Gerechtigkeit widerfahren. Bis heute Morgen habe ich meiner Frau keine Silbe davon gesagt.«
»Könnte Sie’s vermutet haben?«
»Nein, Mr Holmes, das konnte sie ebenso wenig wie sonst jemand.«
»Sind Ihnen früher schon Dokumente abhandengekommen?«
»Nein.«
»Wer in ganz England hat Kenntnis von der Existenz dieses Schriftstücks gehabt?«
»Sämtliche Kabinettsmitglieder sind gestern davon verständigt worden; aber das Gelöbnis der Verschwiegenheit, welches jeder Sitzung folgt, wurde durch eine besondere Warnung des Ministerpräsidenten in diesem Fall noch verschärft. Heiliger Himmel, wie hätte ich damals denken können, dass ich nach ein paar Stunden den ganzen Brief verlieren würde!« Aus seinen schönen Zügen sprach die Verzweiflung, er wollte sich das Haar ausraufen. Einen Augenblick zeigte sich die wahre Natur dieses Mannes, impulsiv, lebhaft, erregbar. Im nächsten Moment aber hatte er die aristokratische Maske wieder vor und die sanfte, glatte Sprache wiedergefunden. »Außer den Mitgliedern des Kabinetts sind es nur noch zwei oder drei Beamte meines Departements, die von dem Brief wissen. Sonst niemand in ganz England, Mr Holmes, ich versichere Sie dessen.«
»Aber außerhalb Englands?«
»Ich glaube, dass ihn außer dem Mann, der ihn geschrieben, kein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Ich bin fest überzeugt, dass die Minister und die üblichen Instanzen umgangen worden sind.«
Holmes dachte eine Zeit lang nach.
»Nun, mein Herr, muss ich Sie um eingehendere Auskunft bitten.
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