Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wollen, aber um Himmels willen, Mr Holmes, finden Sie einen Ausweg, dass meine arme Mary nichts mit dem Gericht zu tun bekommt.«
Holmes schüttelte zum zweiten Mal dem Seemann die Hand.
»Ich wollte Sie nur prüfen; aber Sie bleiben stets wahr. Ich nehme zwar eine große Verantwortung auf mich, doch ich habe Hopkins ja einen guten Wink gegeben, wenn er ihn nun nicht auszunützen versteht, kann ich ihm weiter nicht helfen. Nun, Herr Kapitän, um der Form des Gesetzes zu genügen, wollen wir Folgendes tun. Sie sind der Angeklagte. Watson, Sie sind ein britischer Geschworener, und ich kann mir übrigens keine passendere Persönlichkeit zu dieser Würde vorstellen. Ich selbst werde den Richter spielen. Nun, Herr Geschworener, Sie kennen die Beweisaufnahme. Halten Sie den Angeklagten für schuldig oder nichtschuldig?«
»Nicht schuldig!«, lautete mein Wahrspruch.
»Des Volkes Stimme, Gottes Stimme! Sie sind freigesprochen, Kapitän Croker. Solange das Gesetz in der Sache kein unschuldiges Opfer verurteilt, haben Sie von mir aus nichts zu befürchten. Kehren Sie in einem Jahr zu dieser Dame zurück, und möge uns Ihre beiderseitige Zukunft beweisen, dass wir heute Abend ein gutes und wahres Urteil gefällt haben.«
D ER ZWEITE B LUTFLECKEN
Ich hatte die Absicht, mit dem »Mord in Abbey Grange« meine Veröffentlichung der Taten meines Freundes Sherlock Holmes endgültig zu beschließen. Dieser Entschluss entsprang nicht etwa dem Mangel an Stoff, denn ich habe noch Hunderte von Fällen in meinem Tagebuch aufnotiert, die ich noch nicht benutzt habe. Auch das Schwinden des Interesses aufseiten meiner Leser hat mich nicht dazu veranlasst, denn die eigenartige Persönlichkeit und die einzigartigen Methoden dieses merkwürdigen Mannes üben immer wieder neuen Reiz auf den Leser aus. Der wirkliche Grund war das Ärgernis, das Holmes selbst an dieser fortgesetzten Veröffentlichung nahm. So lange er seinen Beruf noch praktisch ausübte, war ihm die Bekanntgebung seiner Erfolge noch einigermaßen wertvoll; seitdem er sich aber definitiv von London zurückgezogen und sich in den freundlichen Niederungen von Sussex dem Studium und der Bienenzucht gewidmet hat, ist es ihm widerwärtig, noch bekannter zu werden, und er hat mich streng gebeten, seinen diesbezüglichen Wünschen ein für allemal entgegenzukommen. Erst auf meine dringende Vorstellung, dass ich einem mir bekannten Vertreter einer europäischen Großmacht das Versprechen gegeben hätte, die Geschichte von dem zweiten Blutflecken zu veröffentlichen, wann die Umstände es erlaubten, und auf meinen Hinweis, dass die lange Reihe von Erzählungen in diesem wichtigsten internationalen Fall, der ihm je übertragen sei, ihren Gipfelpunkt finden müsse, gelang es mir endlich, seine Einwilligung zu erhalten, dass ich zum Schluss diesen sehr sorgfältig durchgesehenen Aufsatz dem Publikum vorlegen darf. Wenn jemand hie und da einzelne Angaben zu unbestimmt finden sollte, möge er dabei bedenken, dass ich zu meiner Zurückhaltung gewichtige Gründe habe.
Es war also in einem gewissen Jahr und in einem gewissen Jahrzehnt, als sich eines Dienstagmorgens zwei Besucher von europäischem Ruf in unserem bescheidenen Heim in der Baker Street einfanden. Der eine, ein stolzer Mann mit vorstehender, gebogener Nase und Adleraugen, war kein anderer als der berühmte Lord Bellinger, der Premierminister von Großbritannien. Der andere, ein eleganter, dunkler Herr in kaum mittleren Jahren, war der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Trelawney Hope, ein aufgehender Stern am politischen Himmel Europas. Sie saßen nebeneinander auf unserem Sofa, und man konnte ihnen von ihren erregten und bekümmerten Gesichtern ablesen, dass sie ein sehr dringendes Geschäft zu uns führte. Der Premier hatte seine dünnen, blaugeäderten Hände auf den Elfenbeingriff seines Regenschirms gelegt, und sein mageres, asketisches Gesicht blickte düster bald auf Holmes, bald auf mich. Der Sekretär drehte nervös an seinem Schnurrbart und spielte mit der anderen Hand aufgeregt an dem Behang seiner Uhrkette.
»Als ich heute Morgen meinen Verlust entdeckte, Mr Holmes – es war um acht Uhr – setzte ich sofort den Premierminister davon in Kenntnis. Auf sein Anraten sind wir beide zu Ihnen gekommen.«
»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«
»Nein«, antwortete der Premierminister in seiner raschen, entschiedenen Weise. »Das haben wir nicht getan und können es auch unmöglich tun. Die Polizei
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