Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Wenn wir jetzt sicher feststellen könnten, welcher derselben es im Besitz hat, wäre es gerade noch möglich, die Weitergabe zu verhindern. Jedenfalls ist es bei diesen Gaunern nur eine Geldfrage, und ich habe die Staatskasse zur Verfügung. Wenn das Schriftstück noch auf dem Markt ist, werde ich’s kaufen, es mag kosten was es will. Es ist anzunehmen, dass es der Kerl zurückhält, um zu sehen, was für Angebote ihm von dieser Seite gemacht werden, bevor er sein Glück anderswo versucht. Nur die drei sind imstande, ein so gewagtes Spiel zu spielen, Oberstein, La Rothière und Eduardo Lucas. Ich will jeden aufsuchen.«
Ich guckte auf mein Zeitungsblatt.
»Ist das der Eduardo Lucas aus der Godolphin Street?«
»Jawohl.«
»Den werden Sie nicht treffen.«
»Warum nicht?«
»Er ist die vorige Nacht in seiner Wohnung ermordet worden.«
Mein Freund hatte mich im Verlauf unserer Abenteuer so häufig in Erstaunen gesetzt, dass ich mit einer gewissen Genugtuung bemerkte, wie gewaltig ich ihn überrascht hatte. Er starrte mich verwundert an und riss mir dann die Zeitung aus der Hand. Der Bericht, in den ich vertieft gewesen war, als er vom Stuhl aufstand, lautete folgendermaßen:
Mord in Westminster.
Ein geheimnisvolles Verbrechen ist in der vergangenen Nacht in der Godolphin Street 16 verübt worden, deren altmodische Häuserreihen zwischen der Themse und der Abtei liegen, fast unmittelbar hinter dem Parlamentsgebäude. Das kleine, aber vornehme Haus ist seit einigen Jahren von Mr Eduardo Lucas bewohnt worden, einem wegen seiner reizenden Persönlichkeit und seiner musikalischen Begabung in den Kreisen der besseren Gesellschaft allgemein bekannten Herrn. Er ist unverheiratet, vierunddreißig Jahre alt, und sein Haushalt besteht aus einer älteren Wirtschafterin, Mrs Pringle, und seinem Diener Mitton. Jene geht früh zu Bett und schläft im obersten Stockwerk. Der Diener war am Abend bei einem Freund in Hammersmith zu Besuch. Von zehn Uhr an war Mr Lucas allein zu Hause. Was sich dann ereignet hat, ist noch nicht ermittelt, aber um dreiviertel zwölf bemerkte der Schutzmann Barrett, als er durch die Godolphin Street ging, dass in Nr. 16 die Haustür offen stand. Er klopfte, erhielt aber keine Antwort. Da er im Vorderzimmer Licht sah, ging er in den Hausflur und klopfte wieder, bekam aber wieder keine Antwort. Darauf öffnete er die Tür zu diesem Zimmer und trat ein. Hier herrschte eine wüste Unordnung, die sämtlichen Möbel waren auf eine Seite gerückt und ein Stuhl lag mitten auf dem Boden. Neben diesem Stuhl, ihn noch an einem Bein festhaltend, lag die Leiche des unglücklichen Hausherrn. Er war ins Herz gestochen und musste auf der Stelle tot gewesen sein. Das Messer, womit das Verbrechen ausgeführt worden, war ein krummer indischer Dolch, der aus einer Anzahl orientalischer Waffen, die als Wandschmuck dienten, genommen worden war. Raub scheint nicht das Motiv zur Tat gewesen zu sein, denn von den Wertgegenständen im Zimmer fehlte nichts. Mr Eduardo Lucas war sehr bekannt und überall beliebt, dass sein jähes und geheimnisvolles Ende in den Kreisen seiner zahlreichen Freunde großes Aufsehen und tiefes Mitleid erregen wird.
»Nun, Watson, was sagen Sie dazu?«, fragte Holmes nach einer langen Pause.
»Es ist ein wunderbares Zusammentreffen.«
»Ein Zusammentreffen! Denken Sie mal an, Watson, einer der drei Männer, die wir als mögliche Täter bezeichnet hatten, wird gerade um dieselbe Zeit, während der das Dokument gestohlen worden sein muss, auf gewaltsame Weise ermordet. Das spricht ganz entschieden gegen die Annahme eines blinden Zufalls. Nein, mein Lieber, die beiden Ereignisse stehen in Zusammenhang – müssen in Zusammenhang stehen. Und wir müssen den Zusammenhang herstellen.«
»Aber nun muss die offizielle Polizei alles erfahren.«
»Durchaus nicht. Sie erfährt nur das, was sie in der Godolphin Street vor Augen sieht. Von Whitehall Terrace erfährt sie nichts – und soll nichts erfahren. Nur wir kennen beide Vorfälle und sind imstande, eine Verbindung zwischen ihnen aufzuspüren. Ein naheliegender Punkt würde meinen Verdacht sowieso auf Lucas gelenkt haben. Von der Godolphin Street sind es nämlich nur wenige Minuten zur Whitehall Terrace. Die anderen Geheimagenten, die ich genannt habe, wohnen weit draußen in Westend. Es war also für Lucas am leichtesten, mit der Haushaltung des Staatssekretärs Hope in Beziehung zu treten und Nachrichten von dort zu erlangen – ein
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