Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Tür stand. Es war ein dicker Nebel, und man konnte kaum einige Schritte weit sehen. Ich hatte zweimal geklopft, und Oberstein kam, die Tür aufzuschließen. Der junge Mann drang mit mir ins Haus und verlangte zu wissen, was wir mit den Plänen beabsichtigten. Oberstein hatte einen kurzen Totschläger; den hatte er immer bei sich. Als West neben mir stand und seine Frage stellte, schlug Oberstein ihn nieder. Es war ein verhängnisvoller Schlag, denn in wenigen Minuten war West tot. Da lag er nun vor uns, und wir wussten nicht, was wir mit ihm tun sollten. Da kam Oberstein auf den Gedanken, ihn auf das Dach eines Wagens zu legen, denn die Untergrundbahnzüge hielten oftmals gerade unter dem Fenster auf der Rückseite des Hauses. Zuerst aber prüfte er die Zeichnungen, die ich mitgebracht hatte. Drei davon hielt er für besonders wichtig, und die wollte er behalten. ›Sie können sie nicht behalten‹, sagte ich. ›Es wird einen fürchterlichen Aufruhr in Woolwich geben, wenn man sie vermisst.‹ – ›Ich muss sie trotzdem behalten‹, sagte er, ›denn sie sind technisch so kompliziert, dass ich sie nicht kopieren kann; jedenfalls nicht bis morgen früh.‹ ›Dann muss ich alle Pläne wieder heute Nacht zurückbringen‹, erwiderte ich. Er dachte eine Weile nach und rief dann auf einmal erfreut, er hätte einen glücklichen Gedanken. ›Die übrigen sieben stecken wir dem Toten in die Taschen‹, rief er. ›Wenn man die Leiche mit den Zeichnungen findet, dann wird man die ganze Geschichte diesem Beamten in die Schuhe schieben.‹ Ich wusste mir keinen anderen Ausweg, und so schritten wir zur Ausführung seines Gedankens. Eine halbe Stunde hatten wir zu warten, bis ein Zug hielt. Es war so ein dichter Nebel, dass wir ohne Gefahr den Leichnam aus dem Fenster auf ein Wagendach legen konnten. Soweit es mich betrifft, war die Sache damit erledigt.«
»Und ihr Bruder?«
»Er sagte nichts; aber er hatte mich einmal überrascht, als ich die Schlüssel in der Hand hielt, und ich glaube, er fasste damals einen Verdacht. Ich konnte es in seinen Augen lesen. Sie wissen, dass er es nicht hat überleben können.«
Eine drückende, peinliche Stille trat ein. Mycroft Holmes unterbrach sie.
»Können Sie den Schaden nicht wiedergutmachen? Das würde Ihr Gewissen erleichtern und Ihre Strafe mildern.«
»Wie könnte ich den Schaden wiedergutmachen?«
»Wo ist Oberstein mit den Plänen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hat er Ihnen keine Adresse angegeben?«
»Er sagte, Briefe würden ihn wahrscheinlich in Paris, Hotel du Louvre, erreichen.«
»Dann steht es noch in Ihrer Macht, alles wiedergutzumachen«, sagte Sherlock Holmes.
»Ich werde gern alles tun, was ich kann, ich brauche Oberstein nicht zu schonen. Er ist die Ursache meiner Erniedrigung und meines Untergangs.«
»Hier sind Feder und Papier. Setzen Sie sich da an den Schreibtisch und schreiben Sie, was ich diktiere. Den Umschlag adressieren Sie an das Hotel du Louvre. So! Und nun den Brief:
›Sehr geehrter Herr! In Bezug auf das kürzlich mit Ihnen abgeschlossene Geschäft werden Sie wohl selbst schon bemerkt haben, dass eine sehr wichtige Zeichnung fehlt. Ich habe eine Kopie derselben. Ich habe mich müssen in besondere Unkosten deswegen stürzen und muss Sie deshalb um einen Betrag von fünfhundert Pfund bitten. Der Postweg ist ausgeschlossen, ich nehme nur Gold oder Banknoten von Hand zu Hand. Ich würde zu Ihnen kommen, aber es würde sehr auffallen, wenn ich jetzt verreiste. Ich schlage Ihnen daher eine Zusammenkunft im Rauchsalon des Hotels Charing Cross für Samstagmittag vor. Beachten Sie bitte, dass nur Gold oder englische Banknoten in Betracht kommen.‹
Das wird seinen Zweck erfüllen. Es müsste sonderbar zugehen, wenn wir damit unseren Mann nicht fingen.«
Und wir fingen ihn. Es ist eine geschichtliche Tatsache – aus der geheimen Geschichte einer Nation, die oft so viel fesselnder und lehrreicher ist als die offizielle Geschichte –, dass Oberstein, in seiner Begierde, den größten Coup seines Lebens vollständig zu machen, auf den Köder ging und für fünfzehn Jahre in einem englischen Gefängnis verschwand. In seinem Koffer wurden die unersetzlichen Pläne gefunden, die er, um den höchsten Preis zu erzielen, bei allen Flottengroßmächten zugleich zum Kauf angeboten hatte.
Oberst Walter starb nach zwei Jahren im Gefängnis. Und Sherlock Holmes kehrte erfrischt zu seinen Motetten des Lassus zurück. Seine Monografie ist seitdem als
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