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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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Äußeren. Und für eine Nachhilfestunde in Botanik dürfte uns die Zeit fehlen, fürchte ich«, wandte ich ein.
    »Da magst du wohl recht haben. Aber den Löwenzahn mit seinem charakteristischen gelben Blütenstand, der aus vielen einzelnen Zungenblüten besteht, kennst selbst du unter dem Namen Pusteblume. Seine Hauptblütezeit ist im Frühling vom April bis in den Mai. Doch bei einzelnen Exemplaren in geschützter Umgebung – wie hier auf der Waldlichtung – kommen die Blüten noch bis in den späten Herbst hinein. Sieh nur, dort drüben wachsen gleich mehrere Exemplare. Und das soll das Ende unserer Karenzzeit sein. Sobald sich die Blütenköpfe zu schließen beginnen, marschierst du geradewegs nach Westen. Wenn du dich strikt an diese Richtung hältst, wirst du mit etwas Glück noch vor Einbruch der Dunkelheit die Ortschaft Lehenstein erreichen.«
    »Womit wir bei dem zweiten Problem wären, dem fehlenden Kompass.«
    »Auch das ist relativ einfach gelöst. Hier in dieser Gegend weht der Wind meist aus Nordwesten. Alleinstehende Bäume neigen sich der windabgewandten Seite zu, also nachSüdosten. Nach Nordwesten sind sie mit Moos bewachsen, weil von dort aus mehr Feuchtigkeit an sie herangetragen wird.«
    »Und was mache ich mitten im Wald, wo diese Regel nicht gilt?«
    »Dort musst du auf Ameisenhaufen achten. Sie werden meist am Stamm eines großen Baumes und dann immer in Richtung der Sonne, also nach Süden hin, errichtet. Aber wir wollen hoffen, dass du deine neuen Kenntnisse heute noch nicht anzuwenden brauchst.«
    Und so war es dann auch. Ich verkroch mich in meiner Laubhütte. Niemand störte mich. Gegen drei Uhr nach meiner Blumenuhr tauchte Holmes wieder bei mir auf.
    »Komm mit, mein Freund. Oben am Weg steht ein Pferdefuhrwerk für uns bereit. Es ist reich beladen mit allem, was dein Herz begehrt: mit einer großen Kanne Kaffee, frischem Brot, Speck, Würsten und wunderbaren Anziehsachen. Nur der Badezuber fehlt.«
    Noch nie in meinem Leben hatte mir eine Mahlzeit köstlicher gemundet. Und in den feinen, warmen Sachen fühlte ich mich wie ein König.
    Als ich rundum gesättigt war und nun endlich in warmen, sauberen Sachen steckte, durchströmte mich eine tiefe Welle der Dankbarkeit, und mir wurde warm ums Herz. Mit meiner gesunden Hand packte ich Holmes an der Schulter und drückte fest zu. »Das werde ich dir nie vergessen, mein lieber Freund«, flüsterte ich mit tränenreicher Stimme. In diesem Moment glaubte ich felsenfest daran, dass doch noch alles gut werden würde.
    *
    Die Ortschaft Tennendorf hielt für zufällige Besucher keine Überraschungen parat, jedenfalls nicht solche, die auf den ersten Blick sichtbar gewesen wären. Bei der Fünfhundert-Seelen-Gemeinde handelte es sich um ein lang gestrecktes Dorf, das im Wesentlichen aus einer einzigen Straße zu bestehen schien. Nach etwa dreihundert Metern spaltete sie sich auf und umschloss eine grüne Raseninsel, in deren Mitte die Dorfkirche stand, ein kleiner, dringend restaurierungsbedürftiger Barockbau. Irgendwann vor langer Zeit hatte das Kirchlein seinen steinernen Turm verloren. Er war durch eine schlichte Holzkonstruktion ersetzt worden, deren braune Bretter inzwischen stark ausgeblichen waren. Die Kirchturmuhr zeigte permanent auf fünf vor zwölf. Ein geschickter Künstler mit einem gewissen Sinn für Humor hatte sie täuschend echt mit etwas schwarzer, viel weißer und einem Klecks goldener Farbe nachempfunden.
    Die Chaussee endete einige Meter vor dem Ortseingang. An die relativ glatte Straßendecke schloss sich die ungepflasterte Dorfstraße an, so als meinten die Bewohner, wer es bis hierher geschafft habe, überstehe den Rest auch noch unbeschadet. Am Ortsausgang verlief sich der schmaler werdende Holperpfad in einem gänzlich unbefestigten Sandweg, der die Wiesen wieder hinan in den Wald führte. Wie es den Anschein hatte, war in Tennendorf die Welt zu Ende. Danach kam einige Zeit nichts mehr, außer öder Wildnis, und irgendwo hinter diesem Nichts musste die einsame Burg Zingel hoch oben auf dem Hasenstein stehen und auf zufällig des Weges kommende Wanderer warten.
    Das Dorf selbst war gepflegt und sauber. Es dominierten Fachwerkhäuser mit schmalen Vorgärten und großen Hoftoren zur Straßenseite hin. Es gab keinen Bürgersteig, aber die Rasenflächen zwischen den Gebäuden und der einzigen Straßewaren im gesamten Ort frisch geschnitten. An vielen Stellen wuchsen Herbstblumen in üppigen Rabatten. Holmes hielt vor einem
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