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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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Bauerngehöft an. Der Besitzer, ein kleiner Mann mit krumm gearbeitetem Buckel, nahm schweigend das Pferdefuhrwerk entgegen und ließ einige Münzen in seiner Rocktasche verschwinden. Holmes stellte ihm einige Fragen, doch der Bauer zuckte immer nur mit den Schultern. Schließlich wies er mit der Hand die Dorfstraße entlang.
    Wir gingen zu Fuß zum Wirtshaus. Am
Goldenen Auerhahn
war die Zeit stehen geblieben. Der graue Putz der Fassade hätte dringend erneuert werden müssen, und die Schrift auf dem Blechschild an der Frontseite blätterte ab. Sechs ausgetretene Sandsteinstufen links sowie eben so viele abgenutzte Stufen rechts führten von der Rasenfläche hinauf zu einem Podest, welches von einem hinfälligen, schmiedeeisernen Gitter umschlossen wurde. Die metallbeschlagene Eingangstür ihm gegenüber war so niedrig, dass ich den Kopf einziehen musste, als wir den Gasthof betraten. Im großen, düsteren Schankraum standen lange Tafeln mit tiefen Riefen in den dunklen Tischplatten. Um sie gruppierten sich rustikale Eichenhocker als Sitzgelegenheiten. Hinter dem Tresen stand ein gewaltiges Rückbüfett aus geschnitztem Nussbaumholz. In ihm prunkten Dutzende von Bierseideln, darunter auch einige auf den ersten Blick äußerst wertvoll erscheinende Zinnkrüge.
    Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch vielfarbene Butzenscheiben und bildeten wirre Muster auf dem Steinfußboden. Meine Augen gewöhnten sich rasch an das Halbdunkel. Ich schaute mich weiter um. Was mir sofort auffiel, war das fast völlige Fehlen von Publikum. Außer uns gab nur zwei weitere Gäste. Links vom Tresen saß ein einsamer Landarbeiter in einem schäbigen Kittel. Er trug eine schmierige Kappe auf dem Kopf und schien nicht mehr ganznüchtern zu sein. Fünf Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite des Tresens, studierte ein dünner Mann im schwarzen Anzug die Zeitung – oder er tat jedenfalls so, denn zum Lesen war es bereits viel zu schummrig.
    Holmes sagte laut und vernehmlich: »Guten Abend«, aber niemand antwortete ihm.
    Ich wies auf einen Tisch gegenüber vom Zapfhahn und flüsterte meinem Begleiter ins Ohr: »Hier riecht es wie in einem Meerschweinchenkäfig.«
    Wir setzten uns und waren nun gleich weit von den beiden einsamen Zechern entfernt (und bildeten damit ungewollt die gedachten Punkte A,B und C eines gleichschenkeligen Dreiecks).
    Der Wirt war ein dicker, schwitzender Fleischklops mit brauner Lederschürze, der zunächst wortlos mit einem schmutzigen Lappen völlig nutzlos vor uns auf dem Tisch herumfuhrwerkte und uns dann, ohne zu fragen, zwei Krüge Bier hinstellte. Holmes schob das Bier beiseite und verlangte allen Ernstes nach einem Glas Milch.
    Der Mann mit der Zeitung ließ die Arme sinken und riss verblüfft die Augen auf. Sein Gegenüber kratzte sich am Kopf, ohne die Kappe abzunehmen. Der Wirt öffnete sein Karpfenmaul und schnappte hörbar nach Luft.
    Ich befürchtete, die Situation könnte eskalieren, und entschied mich deshalb für ein wirksames Gegenmittel. Ich verkündete laut und bestimmt: »Lokalrunde!«
    Damit war das Eis gebrochen. Der dünne Mann orderte einen halben Liter nebst einem Klaren, der Landarbeiter entdeckte seine plötzliche Liebe zum Branntwein, und der Wirt entkorkte eine staubbedeckte und spinnwebenüberzogene Flasche Rotwein. Wir prosteten einander schweigsam, aber mit würdevollen Mienen zu.
    Zwei weitere Runden folgten. Nach dem dritten Schnaps begann sich der Landmann zu verfärben. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Puterrot zu Kalkweiß. Er stemmte sich hoch, torkelte zum Ausgang und stieß draußen einen überlauten Fluch aus. Er war wohl gegen das Eisengitter geprallt. Dann polterten seine genagelten Arbeitsstiefel viel zu schnell die Stufen hinunter. Unten klatschte etwas schwer auf den Rasen. Stille kehrte ein. Der Schwarzgekleidete spitzte die Ohren und lauschte. Draußen blieb es ruhig. Der dünne Mann erhob sich, ordnete sorgsam seine Kleidung, rollte die Zeitung zusammen, legte ein Geldstück auf die Theke und verschwand durch die Tür. Unten auf der Straße ächzte und schnaufte es, als ob zwei Igel beim Liebesspiel wären.
    Der Wirt schenkte sein Glas mit Rotwein nach und setzte sich zu uns an den Tisch. Und nicht nur das. Er begann sogar zu reden! »Auf der Durchreise?«, wollte er wissen.
    Holmes nickte und fragte: »Sie können sprechen?«
    Der Wirt lachte. »Sehr gut sogar. Bis eben wäre jedes Wort ein Wort zu viel gewesen. Manne hat einen Sprung in der
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