Sherlock Holmes in Dresden
eingeprägt. Die nächste Ortschaft heißt Tennendorf. Sie liegt dort in östlicher Richtung. Der Weiler dürfte in einem strammen Fußmarsch von einer guten Stunde zu erreichen sein. Dort besorge ich für dich warme Kleidung und ein ordentliches Frühstück. Vielleicht kann ich mir sogar von einem Bauern ein Fuhrwerk ausleihen. Dann werde ich kaum länger als zwei, drei Stunden unterwegs sein.«
»Ich möchte lieber mit dir gehen.«
»In deinem Aufzug ist das keinesfalls ratsam. Außerdem hast du keine Stiefel. Du bist es nicht gewohnt, barfuß über Stock und Stein zu laufen.«
»Ich könnte mir einige Binden als provisorisches Schuhwerk um die Füße wickeln.«
»Das heben wir uns als Notvariante auf. Stattdessen bauen wir dir eine Laubhütte. Sie wird dich vor Wind, Regen und fremden Blicken schützen. Auf einem weichen Mooslager kannst du dich bis zu meiner Rückkehr ausruhen.«
Ich gab meinen Widerstand auf. Ich konnte tatsächlich nicht ohne Schuhe stundenlang durch den Wald marschieren.
Holmes schnitt mehrere stabile Haselnussstecken auf die gleiche Länge zurecht, entlaubte sie und riss von dem Verbandsmaterial schmale Streifen ab. Aus den Stecken bildete er zwei Rechtecke, band an diesen Rahmen mehrere dünne Zweige als Längsstreben fest und stellte sie schräg gegeneinander. In dieses zeltähnliche Grundgerüst flocht und hängte er dicke Büschel von Birkenästen ein. Die Seite der Hütte, welche zur Lichtung zeigte, verschloss er auf die gleiche Weise. Mit meiner verletzten Hand konnte ich nur wenig helfen.
Nach einer Weile war das Werk vollendet. Die Laubhütte wirkte auf den ersten Blick wie ein natürlicher Busch und verschmolz nahezu mit dem Wald dahinter.
»Für ein paar Stunden ist das die perfekte Tarnung, denn die Blätter sind noch frisch und fangen erst später an zu welken. Falls jemand kommen sollte, der verdächtig wirkt, schießt du sofort.«
»Was soll ich tun, wenn dir etwas zustößt?«
»Mir wird nichts passieren.«
»Das haben wir in meinem Fall auch gedacht, und nun schau dir doch an, wie ich zugerichtet wurde.«
»Nun gut, einen Notfallplan sollte man immer haben. Wie schon gesagt, ich gehe nach Osten. Geplant sind höchstens zwei Stunden. Doch es kann immer etwas dazwischenkommen. Sagen wir also das Doppelte und eine Stunde Karenzzeit, dann sind wir bei maximal fünf Stunden. Falls ich also in fünf Stunden nicht zurück sein sollte, dann läufst du los und zwar strikt in westlicher Richtung.«
»Da gibt es allerdings zwei Probleme«, wandte ich ein. »Ich besitze weder eine Uhr noch einen Kompass.«
»Keine Schwierigkeit«, erwiderte Holmes. »Ich habe ja schließlich die ganze Zeit über für dich deine goldene Taschenuhr aufbewahrt. Von ihr kannst du nicht nur die Zeit ablesen, sondern sie auch sehr gut als Kompass verwenden. Dazu musst du nur den Stundenzeiger auf die Sonne richten. Süden liegt genau auf der Hälfte der kurzen Entfernung zwischen dem Stundenzeiger und der Zwölf.« Er griff in seine Jackentasche und wurde blass. »Die Uhr ist nicht mehr da. Ich muss sie unterwegs im Wald verloren haben. Es tut mir leid. Mir ist völlig rätselhaft, wie das passieren konnte.«
Ich hatte meine Savonette geliebt, aber darauf kam es nun auch nicht mehr an. Mich konnte einstweilen nichts mehr erschüttern.
Holmes hatte sich inzwischen aus seiner Zerknirschung gelöst. »Aber auch da weiß ich Rat. Als Zeitmesser benutzt du ganz einfach die Blumenuhr.«
»Was soll das sein?«
»An den Blumen auf der Lichtung und am Waldesrand lässt sich ganz vorzüglich die genaue Uhrzeit ablesen. Das weiß die Landbevölkerung schon seit Urzeiten. Wissenschaftlich untersucht wurde es von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné im 18. Jahrhundert. Ihm ist es gelungen, jeder Tageszeit mehrere Blüten zuzuordnen, diezeitgenau aufgehen oder sich schließen. So öffnen sich der Reihe nach um fünf Uhr die Gewöhnliche Gänsedistel, um sieben Uhr der Rote Pippau, um acht Uhr die Graslilie, um neun Uhr das Tausendgüldenkraut, um zehn Uhr die Ringelblume, um elf Uhr die Rote Schuppenmiere und um zwölf Uhr die Tigerlilie. Genau zur Mittagsstunde um zwölf Uhr schließen sich die Gänsedisteln, um ein Uhr die Acker-Ringelblume, um zwei Uhr das Faule Lieschen, um drei Uhr der Löwenzahn, um vier Uhr der Huflattich, um fünf Uhr der Waldsauerklee und um sechs Uhr der Klatschmohn.«
»Die meisten Pflanzen kenne ich noch nicht einmal vom Namen her, geschweige denn von ihrem
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