Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
auch Wilhelm schlief gewöhnlich schon um diese Stunde?«
»Jawohl.«
»Sonderbar, daß er gerade heute nacht noch so spät auf war. – Jetzt lassen Sie uns, bitte, ins Haus gehen, Herr Cunningham.«
Aus einem mit Steinfliesen belegten Gang, in den die Küchenräume mündeten, gelangte man auf einer hölzernen Stiege unmittelbar nach dem Vorplatz des ersten Stockwerks, zu dem auch die reich verzierte Haupttreppe aus der unteren Halle hinaufführte. Sowohl die Türen des Wohnzimmers als mehrerer Schlafzimmer gingen auf diesen Vorplatz hinaus, darunter auch diejenigen der beiden Cunninghams.
Holmes besichtigte die ganze Bauart des Hauses genau und schritt nur langsam vorwärts. Ich sah an seinem Gesichtsausdruck, daß er eine Fährte gefunden hatte, die er eifrig verfolgte; jedoch nach welcher Richtung hin, ahnte ich nicht im geringsten.
»Mein bester Herr«, sagte der Friedensrichter etwas ungeduldig, »Sie machen sich ganz unnütze Mühe. Dort, der Treppe gegenüber, ist mein Zimmer und daneben das meines Sohnes. Nun urteilen Sie selbst, ob es möglich war, daß der Dieb hier heraufkommen konnte, ohne daß wir das Geräusch hörten.«
»Sie wollen wohl überall herumsuchen, ob Sie nicht eine neue Spur entdecken«, sagte der Sohn mit spöttischem Lächeln. »Ich möchte Sie doch bitten, mich noch etwas gewähren zu lassen. Zum Beispiel wünsche ich festzustellen, wie weit man aus den Schlafstubenfenstern die Vorderseite des Hauses überblicken kann. – Dies also ist Ihres Sohnes Zimmer«, sagte er, die Türe aufstoßend, »und dahinter liegt vermutlich das Ankleidezimmer, wo er mit seiner Pfeife saß, als der Lärm entstand. Nach welcher Seite hinaus sieht denn das Fenster?« Er ging durch das Schlafzimmer, öffnete die Tür zu dem anstoßenden Gemach und sah sich darin um.
»Hoffentlich sind Sie nun zufrieden«, sagte Cunningham ärgerlich.
»Jawohl, danke; das war, glaube ich, alles, was ich sehen wollte.«
»Wir können auch noch in mein Zimmer gehen, wenn es durchaus sein muß.«
»Falls es Ihnen nicht unbequem ist.«
Der Friedensrichter zuckte die Achseln und führte uns in seine Schlafstube, einem ganz einfach ausgestatteten Raum. Als die übrigen nach dem Fenster hingingen, blieb Holmes etwas zurück, so daß wir beide die letzten waren. Am Fußende des Bettes, auf einem kleinen Tisch, stand eine Wasserflasche und ein Teller mit Orangen. Auf einmal streckte Holmes zu meiner größten Verwunderung rasch die Hand aus und stieß das Tischchen um, samt allem, was darauf war. Das Glas zerbrach in tausend Stücke, das Wasser floß auf den Teppich, und die Früchte rollten im ganzen Zimmer umher.
»Aber Watson, was hast du angerichtet«, rief Holmes ohne Besinnen, »das ist ja eine schöne Bescherung!«
Ich bückte mich in nicht geringer Verlegenheit, um die Früchte aufzulesen, denn ich begriff wohl, daß mein Gefährte irgend einen triftigen Grund haben müsse, mir die Ungeschicklichkeit in die Schuhe zu schieben. Die andern halfen mir und richteten den Tisch wieder auf.
»Oho«, rief der Inspektor, »wo ist er denn hingeraten?«
Holmes war verschwunden.
»Warten Sie einen Augenblick hier«, sagte Alec Cunningham, »mir scheint, der Mensch ist nicht ganz bei Sinnen. Komm, Vater, wir wollen sehen, was aus ihm geworden ist.«
Sie eilten beide hinaus, während der Inspektor, der Oberst und ich einander verwundert ansahen.
»Meiner Treu, ich glaube, Herr Alec hat recht«, sagte der Polizeibeamte. »Vielleicht ist es eine Nachwirkung der Krankheit, aber ich muß gestehen –«
Seine Rede wurde plötzlich durch das Geschrei: »Zu Hilfe, zu Hilfe, Mord, Mord!« unterbrochen. Schaudernd erkannte ich meines Freundes Stimme und stürzte wie wahnsinnig auf den Vorplatz hinaus. Die Hilferufe klangen jetzt schwach und heiser aus der Stube, die wir zuerst betreten hatten. Ich stürmte hindurch und in das dahinter gelegene Ankleidezimmer. Sherlock Holmes lag am Boden; die beiden Cunninghams hielten ihn gepackt, der Sohn drückte ihm mit den Händen die Kehle zu, während der Vater mit aller Macht an seinem Handgelenk zerrte. Im nächsten Augenblick hatten wir drei sie von ihm fortgerissen, Holmes erhob sich schwankend, er sah leichenblaß und ganz erschöpft aus.
»Verhaften Sie diese beiden Männer, Herr Inspektor«, stieß er keuchend hervor.
»Was haben sie denn begangen?«
»Den Kutscher Wilhelm Kirwan ermordet.«
Verwirrt starrte der Inspektor um sich.
»Aber, bester Herr Holmes«, sagte er
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