Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
diesen Phantasien auf.
»Du hast ganz recht, Watson«, sagte er, »es ist vollkommen widersinnig, derartige Streitfragen auf solche Weise schlichten zu wollen.«
»Die reinste Torheit!«, rief ich; – da ward mir auf einmal klar, daß er meinen innersten Gedanken Ausdruck gegeben hatte. Ich fuhr in die Höhe und starrte ihn in maßloser Verwunderung an.
»Aber Holmes«, rief ich, »wie ist das möglich? Das geht doch über alle Begriffe.«
Er lachte herzlich, als er mein erstauntes Gesicht sah.
»Du erinnerst dich wohl noch«, sagte er, »daß ich dir kürzlich eine Stelle aus Edgar Poes Schriften vorlas, wo erzählt wird, wie ein kluger Kopf den unausgesprochenen Gedanken seines Gefährten folgt? Du warst geneigt, das nur für ein vom Verfasser erdachtes Kunststück zu halten, und wolltest mir nicht glauben, als ich behauptete, ich täte das auch ganz unwillkürlich und fast ohne Unterlaß.«
»Habe ich das gesagt?«
»Nicht mit Worten, mein lieber Watson, aber es stand dir auf der Stirn geschrieben. Als ich nun soeben sah, wie du die Zeitung hinwarfst, um in Nachdenken zu versinken, benutzte ich mit Freuden die Gelegenheit, deinem Gedankengang zu folgen, und erlaubte mir schließlich ihn zu unterbrechen, um dir einen Beweis unseres geistigen Zusammenhangs zu geben.«
Die Erklärung genügte mir keineswegs. »In dem Beispiel, das du erwähntest, hat der kluge Kopf seine Schlüsse aus den Handlungen des Mannes abgeleitet, den er beobachtete. Wenn ich mich recht entsinne, stolperte er über einen Steinhaufen, sah nach den Sternen empor und dergleichen. Ich dagegen habe hier ruhig auf dem Stuhl gesessen und dir keinerlei Anhaltspunkte für dein Gedankenlesen gegeben.«
»Da tust du dir unrecht. Die Gemütsbewegungen des Menschen spiegeln sich in seinen Gesichtszügen, und auch die deinigen sind ihr treues Abbild.«
»Du willst doch nicht etwa behaupten, daß du mir die Gedanken vom Gesicht abgelesen hast?«
»Jawohl; besonders am Ausdruck deiner Augen. Vielleicht erinnerst du dich selbst gar nicht mehr, wie du in die Träumerei geraten bist.«
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Ich will es dir sagen: Daß du die Zeitung hinwarfst, erregte meine Aufmerksamkeit. Du saßest eine Minute lang gedankenlos da, dann schweiften deine Augen nach dem Bilde des Generals Gordon hinüber, das du dir neu hast einrahmen lassen, und ich sah an der Veränderung deines Ausdrucks, daß deine Gedanken eine bestimmte Richtung annahmen, die du jedoch nicht lange verfolgtest. Dein Blick flog zu Henry Ward Beechers Portrait hinüber, das ohne Rahmen auf deinem Büchergestell steht; dann schautest du wieder nach der Wand. Es war leicht zu erkennen, daß du dachtest, Beecher würde ein gutes Seitenstück zu Gordon abgeben, wenn er auch eingerahmt wäre.«
»Das hast du merkwürdig gut erraten.«
»So weit war kaum ein Irrtum möglich. Aber nun kehrtest du zu Beecher zurück und schienst ganz in seinen Anblick vertieft. Du zogst die Augenbrauen nicht mehr zusammen, sahst aber immer noch sinnend zu ihm hin – du überdachtest seinen Lebenslauf. Dabei konntest du nicht umhin, dich zu erinnern, welche Aufgabe er während des amerikanischen Bürgerkrieges für die Sache des Nordens übernommen hatte; ich entsinne mich noch, wie entrüstet du dich darüber aussprachst, daß ein großer Teil des englischen Volkes ihm damals einen so schlechten Empfang bereitete. Als du gleich darauf von dem Bilde fortsahst, vermutete ich, daß dir nun der Bürgerkrieg selbst in den Sinn kam; du preßtest die Lippen zusammen, dein Auge blitzte, unwillkürlich balltest du die Hände, und ich zweifelte nicht, daß du der tapfern Taten gedachtest, die in dem grimmigen Kampf auf beiden Seiten vollbracht worden waren. Aber dann sprach tiefe Trauer aus deinen Zügen, und du schütteltest den Kopf. Deine Gedanken weilten bei den Schmerzen, dem Grauen, dem nutzlosen Blutvergießen. Du preßtest die Hand auf deine alte Wunde, und ein Lächeln spielte um deine Lippen. Dir war plötzlich aufgegangen, wie lächerlich es doch im Grunde sei, internationale Fragen auf solche Art entscheiden zu wollen. In diesem Augenblick sprach ich dir meine Zustimmung aus und freute mich zu sehen, daß alle meine Schlußfolgerungen richtig gewesen waren.«
»Vollkommen richtig«, fügte ich hinzu, »aber nachdem du mir alles erklärt hast, ist mir die Sache durchaus nicht verständlicher geworden.«
»Es war nur ein kleiner Zeitvertreib, mein lieber Watson, von dem ich dir gar nichts
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