Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
im Schein der Lampe sah ich, daß zwei seiner Knöchel geschürft waren und bluteten.
»Wie du siehst, handelt es sich um keine Hirngespinste«, bemerkte er lächelnd, »die Sache ist im Gegenteil so greifbarer Natur, daß dabei die Hand zu Schaden kommen kann. Ist deine Frau zu Hause?«
»Nein, sie ist auswärts zu Besuch.«
»Wirklich? Du bist allein?«
»Völlig allein.«
»Dann fällt es mir um so weniger schwer, dir den Vorschlag zu machen, mich für eine Woche nach dem Kontinent zu begleiten.«
»Wohin?«
»O, irgend wohin, das ist mir ganz gleichgültig.«
Das alles kam mir höchst auffallend vor. Daß Holmes sich einen zwecklosen Urlaub gönnen sollte, sah ihm schon an sich durchaus nicht ähnlich, und in seinem blassen, müden Gesicht lag etwas, das mir zeigte, daß seine Nerven im höchsten Grade überreizt waren. Als er meinem fragenden Blick begegnete, legte er die Fingerspitzen aneinander, stützte die Ellbogen auf die Knie und schickte sich an, mir die Sachlage auseinanderzusetzen.
»Du hast vermutlich nie etwas von Professor Moriarty gehört?«, begann er.
»Niemals.«
»Ja, ja, darin steckt eben das Geniale und das Wunderbare bei der Sache!«, rief er aus. »Der Mann treibt sich in ganz London herum, und kein Mensch hat je von ihm gehört. Das weist ihm einen der hervorragendsten Plätze in den Annalen des Verbrechertums an. Ich sage dir, Watson, in allem Ernste, könnte ich über diesen Menschen triumphieren, könnte ich die Menschheit von ihm befreien, so hätte ich das Bewußtsein, das höchste Ziel in meiner Laufbahn erreicht zu haben, und wäre bereit, mich einer beschaulicheren Lebensaufgabe zuzuwenden. Unter uns gesagt, haben die Dienste, die ich in neuester Zeit dem schwedischen Königshause und der französischen Republik geleistet habe, mir so reichlichen Lohn eingebracht, daß ich sofort in der Lage wäre, mir eine ruhige Lebensweise, wie sie meinen Neigungen entspricht, zu erwählen und mich völlig meinen chemischen Untersuchungen zu widmen. Aber es ließe mir keine Ruhe, Watson, nicht einen Augenblick vermöchte ich still zu sitzen bei dem Gedanken, daß ein Mensch wie dieser Moriarty durch unsere Straßen wandelt, ohne daß jemand den Kampf mit ihm aufnimmt.«
»Was hat er denn begangen?«
»Er hat eine merkwürdige Laufbahn hinter sich. Er ist aus guter Familie, hat eine vortreffliche Bildung genossen und besitzt eine phänomenale Begabung für Mathematik. Mit einundzwanzig Jahren schrieb er eine Abhandlung über die Theorie der Binome, die in ganz Europa Aufsehen gemacht hat. Dadurch errang er sich einen mathematischen Lehrstuhl an einer unserer kleinen Hochschulen, so daß er allem Anschein nach am Anfang einer glänzenden Laufbahn stand. Allein der Mann war erblich belastet mit einem ihm tief im Blute liegenden wahrhaft teuflischen Hang zum Verbrechen, der durch seine außerordentlichen Geistesgaben nicht nur eingedämmt wurde, sondern im Gegenteil dadurch noch bedeutend an Stärke und selbstverständlich vor allem an Gefährlichkeit zunahm. Es bildete sich um seine Person am Ort seiner Tätigkeit ein Dunstkreis von allerlei dunklen Gerüchten, so daß er sich schließlich genötigt sah, sein Lehramt niederzulegen und sich in London als Einpauker für die Offizierprüfung niederzulassen. So viel ist überall von ihm bekannt, dagegen habe ich das, was ich dir jetzt sagen will, durch eigene Nachforschungen ermittelt.
Du weißt ja wohl, Watson, daß niemand die höhere Verbrecherwelt so gut kennt als ich. Nun fiel mir schon seit Jahren fortwährend auf, daß hinter dem Verbrecher irgend eine Macht stehen müsse, eine geheimnisvolle Macht, die dem Gesetze überall planmäßig und systematisch in den Weg trat, dagegen den Übeltätern ihren Schutz lieh. Immer und immer wieder bei Fällen der verschiedensten Art, bei Einbrüchen, bei sonstigen Diebstählen, bei Mordtaten stieß ich auf die Spuren dieser Macht, und bei einer ganzen Reihe von unaufgeklärt gebliebenen Verbrechensfällen, in denen ich keinen persönlichen Rat erteilt hatte, mußte ich zu der Überzeugung gelangen, daß dieser Umstand nur dem Walten jener Macht zuzuschreiben sei. Jahrelang habe ich daran gearbeitet, den Schleier zu lüften, in den dieselbe sich hüllte, und endlich war ich so weit, daß ich meinen Faden aufnehmen und verfolgen konnte, bis er mich auf tausendfachen künstlichen Irrwegen zu dem berühmten Mathematiker, dem vormaligen Professor Moriarty, hinleitete.
Er ist der Napoleon des
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