Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
befand ich mich auf der Landstraße bei Briarbrae. Die Straße ist wohl nie sehr besucht, doch wartete ich, bis sie ganz menschenleer war, und kletterte dann über den Zaun in den Garten.«
»War denn das Tor nicht offen?«, fragte Phelps verwundert.
»Freilich; aber ich habe in diesen Dingen meinen eigenen Geschmack. Ich wählte die Stelle, wo die drei Tannen stehen, und in ihrem Schutz gelangte ich hinüber, ohne daß mich jemand vom Hause her sehen konnte. Ich kauerte mich drinnen unter die Büsche und kroch von einem zum andern – die Knie meiner Beinkleider können davon Zeugnis geben – bis ich das Rhododendrongebüsch Ihrem Schlafzimmerfenster gegenüber erreicht hatte. Da legte ich mich auf die Erde und wartete der Dinge, die da kommen sollten.
Der Vorhang in Ihrem Zimmer war nicht geschlossen, und ich konnte Fräulein Harrison sehen, die lesend am Tische saß. Um ein viertel auf elf klappte sie ihr Buch zu und zog sich zurück. Ich hörte sie die Tür zumachen und war überzeugt, daß sie den Schlüssel im Schloß umgedreht und zu sich gesteckt hatte.«
»Den Schlüssel?«, fragte Phelps.
»Ja; ich hatte das Fräulein gebeten, die Tür von außen zu verschließen und den Schlüssel mitzunehmen, wenn sie zu Bett ginge. Sie hatte alle meine Anordnungen aufs pünktlichste ausgeführt; ohne ihre Hilfe würden Sie jetzt schwerlich das Schriftstück in der Rocktasche haben. – Sie entfernte sich, die Lichter im Hause erloschen, und ich blieb in dem Gebüsch auf der Erde liegen. Die Luft war warm, aber die Nachtwache doch recht ermüdend. Natürlich empfand ich auch eine Art Aufregung dabei, wie sie der Jäger fühlt, der am Waldbach liegt und auf das Hochwild lauert. Die Kirchenuhr in Woking schlug die Viertelstunden an, und ich glaubte mehr als einmal, sie müsse stehen geblieben sein. Endlich, gegen zwei Uhr morgens hörte ich plötzlich, daß ein Riegel leise fortgezogen wurde und ein Schlüssel im Schloß klirrte. Gleich darauf öffnete sich die Hintertür, und Herr Josef Harrison trat in den Mondschein heraus.«
»Was – Josef!«, rief Phelps.
»Er war barhäuptig, hatte aber einen schwarzen Mantel übergeworfen, mit dem er sein Gesicht augenblicklich verhüllen konnte, fall es nötig würde. Er schlich auf den Fußspitzen an der Mauer hin, und als er das Fenster erreichte, steckte er ein Messer mit langer Klinge unter den Fensterrahmen, schob den Riegel zurück und stieß das Fenster in die Höhe. Dann bohrte er das Messer durch einen langen Spalt im inneren Laden, hob die Querstange ab und öffnete ihn.
Von der Stelle aus, wo ich lag, konnte ich allen seinen Bewegungen folgen und das ganze Zimmer übersehen. Er zündete drinnen die beiden Lichter auf dem Kaminsims an und begann die Ecke des Teppichs neben der Tür aufzuheben. Dann bückte er sich und nahm ein viereckiges Stück der Diele heraus, das wohl beim Legen der Gasröhren nicht befestigt worden war, um etwaige Ausbesserungen zu erleichtern; der Anschluß des Rohrs nach der Küche zu mußte dort sein. Aus der Vertiefung holte er die Papierrolle hervor, paßte das Brett wieder ein, deckte den Teppich darüber, blies die Lichter aus und lief mir dann geradeswegs in die Arme, denn ich stand draußen vor dem Fenster und wartete auf ihn.
Herr Josef hat übrigens mehr Bosheit im Leibe, als ich ihm zugetraut hätte. Er stieß mit dem Messer nach mir; ich mußte ihn erst zweimal zu Boden werfen und erhielt einen Schnitt quer über das Handgelenk, ehe ich die Oberhand bekam. Das eine Auge, mit dem er noch sehen konnte, als wir zwei miteinander fertig waren, funkelte zwar vor Mordlust, aber er nahm doch Vernunft an und lieferte mir das Schriftstück aus. Sobald ich es hatte, ließ ich den Mann laufen; doch versäumte ich es nicht, die Geschichte gleich heute früh ausführlich an Forbes zu telegraphieren. Wenn er sich sehr beeilt, kann er den Vogel noch fangen. Findet er aber, wie ich vermute, das Nest bereits leer, so ist das um so besser für die Regierung. Lord Holdhurst und Percy Phelps werden es wahrscheinlich lieber sehen, wenn die ganze Sache niemals vor das Polizeigericht kommt.«
»Großer Gott!«, stieß unser Klient keuchend hervor, »ist es denn möglich, daß während der langen entsetzlichen zehn Wochen voll namenloser Angst die gestohlenen Papiere bei mir im Zimmer gelegen haben?«
»Ganz recht – so war es.«
»Und Josef – ein Dieb und ein Bösewicht!«
»Josef ist allerdings ein versteckterer und gefährlicherer Charakter,
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