Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
passierte die Tragödie. Jetzt hab ich Ihnen alles erzählt, was ich selber weiß, denn der Rest ist ein Raten und Vermuten. Immerhin haben wir aber eine ganz gute Arbeitsbasis, von der aus wir beginnen können. Wir müssen uns jetzt beeilen, denn ich will ins Haie-Konzert gehen, um heute nachmittag Norman Neruda zu hören.«
Die Unterhaltung hatte stattgefunden, während unsere Droschke durch eine Folge von
schäbigen Straßen und trüben Nebenstraßen fuhr. In der schäbigsten und düstersten Gasse von allen kam die Droschke zu einem Halt. »Das da drüben ist Audley Court«, sagte der
Kutscher und wies auf einen schmalen Gang in einer Reihe von dunklem Mauergestein.
Audley Court war keine angenehme Lokalität. Die schmale Passage führte uns auf einen
viereckigen Hof, der mit Pflastersteinen ausgelegt und mit trübsinnigen Wohnungen umbaut war. Wir schoben uns durch Gruppen dreckiger Kinder hindurch und durch Reihen von
grauer Wäsche, bis wir zu Nr. 46 kamen. Ein kleines Metallschild zierte die Tür, auf dem der Name Rance stand. Auf unsere Frage hieß es, der Polizist sei im Bett. Wir wurden in das kleine Vorderzimmer geführt um auf sein Erscheinen zu warten.
Er kam auch gleich darauf, sah ein wenig irritiert aus, weil wir ihn in seinem Schlaf gestört hatten. »Ich habe meinen Bericht in der Dienststelle gemacht«, sagte er.
Holmes nahm einen halben Sovereign aus der Tasche und spielte gedankenverloren damit.
»Wir dachten, wir würden das gerne alles aus Ihrem eigenen Munde hören«, sagte er.
»Ich werde Ihnen gerne alles erzählen, was ich weiß«, sagte der Polizist mit einem Blick nach dem Goldstück.
»Dann erzählen Sie mir mit eigenen Worten, was sich letzte Nacht ereignet hat.«
Rance setzte sich auf das Roßhaarsofa und zog die Brauen zusammen, so, als wollte er auf keinen Fall etwas in seiner Geschichte auslassen.
»Ich werde von Anfang an erzählen«, sagte er. »Mein Dienst geht von zehn Uhr abends bis sechs Uhr in der Frühe. Um elf Uhr war eine Schlägerei im >Weißen Hirschen<, aber abgesehen davon hatte ich eine ruhige Wache. Um ein Uhr fing es zu regnen an. Um diese Zeit traf ich Harry Murcher — er hat die Holland-Grove-Wache —, und wir standen
zusammen an der Ecke von Henriette-Street und haben zusammen geredet. Schließlich, es war nur ein bißchen später, dachte ich daran, daß es gut sei, noch einmal die Runde zu gehen und zu sehen, ob in der Brixton Road alles in Ordnung sei. Es war dort ziemlich schmutzig und einsam. Keine Seele habe ich auf dem Wege getroffen, aber zwei Kutschen überholten mich.
Also, ich ging die Straße längs und dachte — ganz unter uns gesagt —, wie gut mir nun ein heißer Ginpunsch tun könnte. Plötzlich erregte ein Lichtstrahl aus diesem Haus meine
Aufmerksamkeit. Nun wußte ich aber, daß diese beiden Häuser in Lauriston Garden
unbewohnt sind. Ich weiß es darum, weil der Besitzer die Regenrinnen nicht hat in Ordnung bringen lassen wollen und weil der letzte Mieter an Typhus gestorben ist. Ich war ganz erschrocken, als ich plötzlich Licht in dem Fenster sah. Ich dachte mir schon, daß da was nicht in Ordnung sein könnte. Als ich an die Tür kam...«
»Sie haben angehalten und sind zurück zur Gartenpforte gegangen«, unterbrach mein Freund.
»Warum haben Sie das getan?«
Rance sprang erschrocken auf und starrte Sherlock Holmes an. Seine ganze Gestalt drückte verwundertes Staunen aus.
»Aber ja, Sie haben recht, Sir«, sagte er »doch wie Sie das erfahren haben, mag der Himmel wissen. Sehen Sie, es war dort so dunkel und einsam und ich dachte, ich sei nicht so schlecht dran, wenn jemand mit mir gehen würde. Ich fürchte mich nicht so leicht, aber irgendwie mußte ich an den denken, der an Typhus gestorben ist. Ich glaubte, vielleicht sei er
wiedergekommen und wolle nach den Regenrinnen sehen, die ihn ja eigentlich
umgebracht haben. Der Gedanke hat mich erschreckt und so bin ich umgekehrt und habe
geschaut, ob ich Murchers Laterne irgendwo entdecken konnte. Aber er war nirgends zu
sehen und jemand anders war auch nicht in der Nähe.«
»Es war niemand auf der Straße?«
»Keine lebendige Seele, nicht einmal ein Hund. Da habe ich mich zusammengenommen und
bin zurückgegangen und habe die Tür aufgestoßen. Drinnen war alles ruhig. So bin ich in das Zimmer gegangen, wo das Licht brannte. Dort flackerte eine Kerze auf dem Kamin - eine rote Wachskerze - und bei dem Licht sah ich...«
»Ja, ich weiß, was Sie sahen. Sie sind
Weitere Kostenlose Bücher