Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
ein paarmal im Zimmer herumgegangen und Sie haben sich neben der Leiche niedergekniet, dann sind Sie durch den Raum gegangen und haben
versucht, ob die Küchentür verschlossen war und dann...«
John Rance sprang auf - mit verängstigtem Gesicht und Verdacht in den Augen.
»Wo waren Sie die ganze Zeit versteckt?« rief er. »Es sieht aus, als wüßten Sie eine ganze Menge mehr, als Sie eigentlich sollten.«
Holmes lachte und schob dem Polizisten seine Visitenkarte zu. »Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, mich als Mörder zu verhaften«, sagte er, »ich bin einer der Jagdhunde, nicht der Wolf. Mr. Gregson und Mr. Lestrade stehen dafür gerade. Aber bitte, fahren Sie fort, was haben Sie dann als nächstes getan?«
Rance setzte sich wieder hin, ohne daß jedoch der Ausdruck des Verwunderns ganz aus
seinem Gesicht verschwand. »Ich ging zurück zum Gartentor und pfiff auf meiner
Trillerpfeife. Das rief Murcher und zwei andere Kollegen herbei.«
»War die Straße da immer noch leer?«
»Na ja, das kann man wohl sagen. Jedenfalls konnte der keinem etwas nützen.«
»Was meinen Sie damit?«
Über das Gesicht des Polizisten breitete sich ein Lächeln aus. »Ich habe manchen
Betrunkenen in meinem Leben gesehen«, sagte er, »aber noch nie jemanden, der so
hoffnungslos voll war, wie dieser Mensch. Er war an der Gartenpforte, als ich heraus-
kam. Er lehnte gegen den Zaun und sang aus vollem Halse von irgendeiner Columbine oder was sie da jetzt immer singen. Er konnte kaum noch aufrecht stehen, geschweige denn uns helfen.«
»Was für ein Mann war das?« fragte Holmes.
Diese Frage schien Rance zu irritieren. »Er war ein ungewöhnlich betrunkener Mann. Wir hätten ihn mit auf die Wache genommen, wenn wir nicht soviel zu tun gehabt hätten.«
»Sein Gesicht, seine Kleidung — ist Ihnen da nichts aufgefallen?« fragte Holmes ungeduldig.
»Ich sollte ihn wohl bemerkt haben, wo ich ihn doch zu stützen hatte, Murcher und ich
zusammen. Er war ein ziemlich langer Kerl, hatte ein rotes Gesicht, um die untere
Gesichtshälfte trug er einen Schal...«
»Das reicht!« rief Holmes. »Was ist aus ihm geworden?«
»Wir hatten genug zu tun, auch ohne uns um ihn kümmern zu müssen«, sagte der Polizist mit betrübter Stimme. »Ich nehme an, daß er schließlich nach Hause gefunden hat.«
»Wie war er gekleidet?«
»Er hatte einen braunen Mantel an.«
»Trug er eine Peitsche in der Hand?«
»Eine Peitsche? Nein.«
»Dann muß er sie liegengelassen haben«, murmelte mein Begleiter. »Sie haben nicht zufällig hinterher eine Droschke gesehen?«
»Nein.«
»Hier ist der halbe Sovereign für Sie«, sagte mein Freund, stand auf und nahm seinen Hut.
»Ich fürchte Rance, daß Sie es bei der Polizei nicht sehr weit bringen werden. Ihren Kopf sollten Sie nicht bloß zur Dekoration haben, sondern ihn auch wirklich benutzen. In der letzten Nacht hätten Sie sich den Streifen des Sergeanten verdienen können. Der Mann, den Sie in der Hand hatten, der hält in seiner Hand alle Schlüssel zu dem Rätsel, das wir zu lösen versuchen. Aber es nützt nichts, wenn wir jetzt darüber streiten. Ich sag auch bloß, daß es so ist. Kommen Sie, Doktor.«
Wir fuhren mit der Droschke zurück und ließen unseren Informanten ungläubig, aber mit
deutlich ungemütlichen Gefühlen zurück.
»Dämlicher Esel!« sagte Holmes bitter, als wir in unsere Wohnung zurückfuhren. »Wenn man sich überlegt, was der für ein enormes Glück in den Händen gehalten hat und nichts damit anzufangen weiß!«
»Mir ist die Sache inzwischen eher noch schleierhafter. Es stimmt, die Beschreibung des Betrunkenen trifft mit der des zweiten Mannes zusammen. Aber weshalb sollte er zu dem
Haus zurückkehren, nachdem er schon weggegangen war? Das ist doch nicht die Masche,
nach der Verbrecher allgemein handeln.«
»Der Ring, Mann, der Ring! Das war der Grund, weshalb er zurückgekommen ist. Wenn wir
keine andere Möglichkeit haben, ihn zu kriegen, dann müssen wir den Ring als Köder
auslegen. Ich werde ihn kriegen, Doktor. Ich wette mit Ihnen eins gegen zwei, daß ich ihn kriegen werde. Und der Dank gehört Ihnen. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich
vielleicht nicht hingegangen und hätte die beste Studie verpaßt, die mir überhaupt je begegnet ist: die Studie in Scharlachrot. Was? Warum sollen wir uns nicht ein bißchen in der Sprache der Künstler ergehen. Ein scharlachroter Faden läuft durch die graue Ader des Lebens und es ist unsere Pflicht,
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