Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
auf der Hut sein. Wir haben noch einen ganzen Monat vor uns. Wenn der zu Ende ist, dann verschwinden wir am besten aus Utah.«
»Utah verlassen!«
»Ja, darauf läuft es hinaus.«
»Und was wird mit der Farm?«
»Wir wollen sehen, daß wir soviel Geld wie möglich zusammenkriegen. Den Rest lassen wir einfach fahren. Um die Wahrheit zu sagen, Lucy, ich habe schon öfter mit dem Gedanken
gespielt. Ich bin immer ein freier Mensch gewesen. Mich einem Menschen zu beugen, so wie hier ein ganzes Volk sich unter die Knute des verdammten Propheten beugt, das ist eigentlich nie so recht meine Art gewesen. Ich bin ein freier Amerikaner und dies Leben hier paßt schlecht zu mir. Ich bin zu alt, um mich wirklich ändern zu können. Möglicherweise kommt er eines Tages hier auf die Farm und muß sehen, daß sich zwei Ausreißer auf den Weg in entgegengesetzte Richtung davongemacht haben.«
»Aber sicherlich lassen sie uns nicht so einfach ziehen«, wandte die Tochter ein.
»Warte bis Jefferson kommt, der wird hier alles schnell regeln. In der Zwischenzeit solltest du dir keine Sorgen machen, mein Liebling. Sieh zu, daß deine Augen nicht so rot und
verquollen sind. Sonst läßt er es an mir aus, wenn er dich so sieht. Es gibt
nichts, wovor man Angst haben müßte. Es gibt überhaupt keine Gefahr.«
John Ferrier flüsterte ihr sehr zuversichtliche Trostworte ins Ohr. Aber sie konnte gar nicht übersehen, daß er die Türen mit unüblicher Vorsicht verschloß und daß er sein verrostetes Gewehr, das an der Wand des Schlafzimmers gehangen hatte, sehr sorgfältig reinigte und lud.
4. KAPITEL
Eine Flucht ums Leben
Am Morgen nach dem Gespräch mit dem Propheten der Mormonen fuhr John Ferrier nach
Salt Lake City. Dort machte er einen Bekannten ausfindig, der gerade dabei war, in die Nevada Mountains aufzubrechen. Ihm vertraute er die Nachricht für Jefferson Hope an. Er hatte dem jungen Mann von der drohenden Gefahr geschrieben und machte ihm in seinem
Brief klar, daß es notwendig sei, daß er so schnell wie möglich zurückkomme. Als er das erledigt hatte, war ihm wohler zumute. Mit leichterem Herzen kehrte er heim.
Als er sich seiner Farm näherte, wunderte er sich, denn an beiden Seiten des Tores waren Pferde angebunden.
Noch mehr verwunderten ihn die Besucher. Zwei junge Männer hatten sich in seinem
Wohnzimmer breit gemacht. Einer von ihnen, ein Jüngling mit einem langen, blassen Gesicht, hatte sich im Schaukelstuhl zurückgelehnt und die Füße auf den Ofen gelegt. Der andere, ein stiernackiger junger Mann mit grobem, aufgedunsenem Gesicht, stand mit den Händen in den Taschen am Fenster und pfiff einen Schlager. Beide nickten Ferrier zu, als er eintrat, und der im Schaukelstuhl eröffnete das Gespräch.
»Vielleicht kennen Sie uns nicht«, sagte er. »Dies hier ist der Sohn des Ältesten Drebber und ich bin Joseph Stangerson, der mit Euch gereist ist, als der Herr in der Wüste seine Hand ausstreckte, um euch zu der Herde der wahrhaft Gläubigen zu versammeln.«
»Genauso wie er es mit allen Menschen und Nationen zu seiner Zeit tun wird«, sagte der andere mit näselnder Stimme. »Gottes Mühlen mahlen langsam, aber fein.«
John Ferrier verbeugte sich kühl. Er hatte seine Gäste auf den ersten Blick erkannt.
»Wir sind auf den Rat unserer Väter gekommen«, fuhr Stangerson fort, »um die Hand Eurer Tochter anzuhalten, wem von uns beiden Ihr sie geben möchtet. Da ich nur vier Frauen habe, Bruder Drebber aber sieben, scheint es, als habe ich das größere Recht auf sie.«
»Nein, Bruder Stangerson«, rief der andere, »es geht nicht darum, wieviele Frauen einer von uns hat, sondern wieviele er sich halten kann. Mein Vater hat mir inzwischen seine Mühle übertragen und so bin ich der reichere von uns beiden.«
»Aber meine Aussichten sind besser«, rief der andere hitzig. »Wenn der Herr meinen Vater von hinnen nimmt, werde ich seine Gerberei und seine Lederfabrik erben. Außerdem bin ich älter als du und habe so den höheren Rang im Tempel.«
»Lassen wir doch die Jungfrau entscheiden«, sagte der junge Drebber und betrachtete
wohlgefällig sein eigenes Bild im Spiegel. Wir überlassen alles ihrer Entscheidung.«
Während dieses Gesprächs stand John Ferrier schäumend vor Wut in der Tür, kaum in der
Lage, die Reitpeitsche nicht über die Rücken seiner Gäste zu schwingen.
»Schauen Sie her«, sagte er schließlich und schritt auf sie zu. »Wenn meine Tochter Sie darum bittet, dann dürfen Sie
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