Sherlock Holmes und das Druidengrab
Darin läge der eigentliche Wert.“
„Haben Sie diese Handschrift je gesehen?“
„Ich kenne die Bibliothek Reb Treppengelaenders als Ganzes, aber keine einzelnen Werke. Ich bin nämlich ...“
„Angehöriger der schreibenden Zunft, Dr. Brod“, unterbrach ihn Holmes, „aber Sie üben den Brotberuf eines Juristen aus.“
Brod war sichtlich erstaunt. „Das stimmt! Haben Sie von mir gehört oder gelesen?“
„Ich lese selten böhmische Zeitungen, Dr. Brod. Nein, ich schaue nur genau hin und ziehe Schlüsse daraus. Gerade konnte ich in Ihrer Aktentasche eine Ausgabe des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wahrnehmen, dessen einhundertjähriges Inkrafttreten heuer gefeiert wird. Die Auslagen der Buchhandlungen sind voll von Jubiläumsausgaben dieses Werkes. Ich erkenne es daher auf den ersten Blick. Allerdings zeugt Ihr Exemplar von starker Abnutzung; zwischen den Seiten liegen zahlreiche Papierstreifen als Lesezeichen. Außerdem spielen Sie Klavier. Das verrät nicht nur die Form Ihrer Fingerkuppen, sondern auch das Notenblatt, das eben aus Ihrer Tasche fiel. Die ist mit Büchern vollgepackt, welche eher das Aussehen von Romanen haben, nicht von juristischer Fachliteratur. Sie schreiben, wie ich an Ihren Händen sehen kann, mit blauer und mit schwarzer Tinte. Ich vermute, dass Sie in einem Büro arbeiten, wo die blaue Tinte Verwendung findet. Die ist Ihnen mehrmals auf den linken Ärmel Ihres Jacketts gespritzt, möglicherweise beim Ausklopfen einer Feder oder eines Füllfederhalters. Dagegen nehme ich fast keine schwarze Tinte auf dem Ärmel wahr. Vermutlich tragen Sie nach Dienst zu Hause beim Schreiben mit schwarzer Tinte ein anderes Kleidungsstück. Wäre es anders, fänden sich nicht blaue und schwarze Tintenspuren gleichzeitig an Ihren Händen, aber blaue nur auf Ihrer Bürokleidung. Wie Dr. Kafka sind Sie wohl Schriftsteller. Oder Literaturkritiker. Oder beides.“
„Ich bedauerte schon bei unserem Eintreten, Mr Holmes, das Ausbleiben dieser Szene. Da ich alle Berichte Dr. Watsons mit Spannung gelesen habe, hatte ich sehr gehofft, selbst einmal im Mittelpunkt einer Ihrer meisterhaften Deduktionen stehen zu dürfen. Ja, Sie haben in allem Recht! Ich bin Postbeamter, bis ich vom Schreiben werde leben können. Gerade habe ich einen Vertrag mit dem Verlag Kurt Wolff in Berlin geschlossen. Aber sagen Sie mir, Franz, also Dr. Kafka, hat das doch nicht etwa alles über mich erzählt?“
„Dann wäre es unredlich, sein Wissen als Ergebnis meiner Deduktion auszugeben. Nein, Sie tragen die Kennzeichen Ihrer Tätigkeit so unübersehbar vor sich her wie ein Ritter sein Wappenschild.“
Nun wagte auch ich einmal einen Einwurf. „Könnte es sein, Dr. Brod, dass in Reb Treppengelaenders Bibliothek eingebrochen wurde und dieser Goi mit der Sache gar nichts zu tun hat?“
„Nein, Dr. Watson. Eigentlich kann nur Vacláv der Dieb sein.“
„Dürften wir uns einmal bei Reb Treppengelaender umschauen?“, wollte Holmes wissen.
„Selbstverständlich. Es ist nicht weit, aber wir haben aus Rücksicht auf die angegriffene Gesundheit von Reb Treppengelaender eine Kutsche genommen. Sie steht noch unten.“
Die Fahrt zu Reb Treppengelaenders Wohnung dauerte gerade lange genug, um den Reb nach seinem seltsamen Namen zu fragen. Nach einem kurzen Wortwechsel auf Judendeutsch antwortete Dr. Brod. „Das ist eine der kleineren, gerade noch erträglichen Bosheiten der kakanischen Beamtenschaft gegen die Juden. Anfang des vorigen Jahrhunderts wurden wir zum Tragen von Nachnamen verpflichtet. Wer kein Geld besaß, hieß plötzlich Pulverbestandteil, Gesäßgezwitscher oder Schweißfuß. Wer ein Bakschisch geben konnte, durfte etwa als Treppengelaender firmieren. Reichen gestattete man, ihren Namen von hebräischen Worten abzuleiten wie Kohen, Priester, oder von der Heimatstadt, zum Beispiel Wiener.“
„Welche Schande für dieses Land“, meinte ich.
„Sie sagen es, Dr. Watson. Aber da sind wir ja schon.“
Reb Treppengelaender wohnte in einem windschiefen Haus mit mehreren Stockwerken. Als wir vorfuhren, nahm die feine ältere Frau von der Fotografie, die wie alle gläubigen jüdischen Ehefrauen den Scheitl, die Perücke, trug, ihren Mann mit leuchtenden Augen in Empfang. Brod stellte sie uns als Chaja vor.
Etwas neidisch schaute ich zu, wie Chaja ihren Mann liebevoll zu einem Sessel führte und ihm einen Becher mit einem Getränk brachte. Die Einrichtung des Hauses war arm, aber reinlich. Chaja wollte uns
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